Die Blicke, die sich auf Yaren richteten, ließen ihn noch starrer zu dem gläsernen Kuppeldach emporblicken. Einschüchternd groß war alles an dem Gebäude. Die Treppe, die Fenster, die klassizistischen Säulen, die das Vordach stützten, sogar die Rasenfläche ließ einen auf die Größe eines Kindes schrumpfen. Zu dritt standen sie vor dem Landtag in Berlin. Katja, Noah und zwischen ihnen Yaren.

====================================

Mit rund 700 Einsendungen hat der bundesweite Schreibwettbewerb „Die Freiheit, die ich meine – Meinungsfreiheit“ eine überwältigende Resonanz erfahren. Vor wenigen Tagen hat die siebenköpfige Jury die Shortlists in den verschiedenen Kategorien auf der Website des Wettbewerbs veröffentlicht.

Insgesamt haben es 43 Werke verschiedenster literarischer Gattungen in die Vorauswahl geschafft. Die LEIPZIGER ZEITUNG veröffentlicht einige davon nach eigener Auswahl. Die Sieger*innen werden am 28. April online veröffentlicht.

Bis zum 27. April haben nun Leser*innen die Möglichkeit, aus den Shortlist-Beiträgen ihren Publikumsliebling zu wählen. Für das Voting haben die Veranstalter auf der Website unter https://3oktober.org/schreibwettbewerb/shortlist-2023/ ein entsprechendes Abstimmungs-Formular eingerichtet.

Die feierliche Preisverleihung findet im festlichen Rahmen am 28. April, 11 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse im Forum Sachbuch (Halle 4) statt. Dafür konnten die Veranstalter prominente Partner gewinnen. So stiftet die Kampagne des Freistaats Sachsen „So geht sächsisch.“ die Preise für die Sieger in den drei Kategorien in Höhe von insgesamt 3.000 Euro.

Mehr Informationen finden sich unter www.3oktober.org/schreibwettbewerb

====================================

CN: Dieser Text enthält Darstellungen von demokratiefeindlichen Positionen, Hatespeech, sowie deren Wirkung auf Opfer wie Paranoia, Depressionen und Suizid. Quellen, die zur Inspiration dienten, sind im Anschluss angegeben.

Es war früher Abend, die Sonne war verschwunden. Eine schwache Spur aus Licht hatte sie am Horizont zurückgelassen. Je dunkler sie wurde, desto heller brannten die Lichter von Berlin.

„Wie meinst du das?“ Katja hatte den verständnislosen Tonfall, den Yaren erwartet hatte.

„Ich meine genau das“, erwiderte Yaren, „Macht dir eine Regierungsform, an deren Rechtmäßigkeit niemand mehr zweifelt, keine Angst? Glaub nicht, dass ich daran zweifeln will. Es passiert einfach. Ich will daran glauben, aber genau weil ich will, kann ich nicht. Ich frage mich, ob die Menschen einmal mit der gleichen Selbstverständlichkeit an die Rechtmäßigkeit ihres Königs geglaubt haben. Ich frage mich, ob es bessere Regierungsformen gibt, die wir nicht finden, weil wir nicht suchen.“

„Spinnst du?“ Noah schien nicht sicher zu sein, ob er seine Worte für einen Scherz halten sollte. „Was willst du denn stattdessen? Eine Diktatur? Es kann doch wohl nur am gerechtesten sein, wenn die Mehrheit regiert.“

„Wirklich? Schau dir die Mehrheit der Menschen an. Die Mehrheit liegt auf dem Sofa, lässt sich von ihren Lieblingsinfluencern die neusten Trends setzen und denkt ungefähr bis zum nächsten Feierabend. Die Mehrheit kennt sich mit Automarken besser aus als mit den Parteien in unserem Bundestag. Womit verdient die Mehrheit das Recht über eine Zukunft zu entscheiden, die sie überhaupt nicht interessiert?“

„Und deswegen willst du ihnen das Wahlrecht nehmen?“

„Wenn ich ganz ehrlich bin? Ich höre, wie Menschen mit den unvernünftigsten Argumenten gegen die vernünftigsten Entscheidungen demonstrieren. Es käme mir falsch vor, ihnen dafür das Wahlrecht zu entziehen. Aber es macht mir auch Angst, es ihnen zu erlauben. Es macht
mir Angst, unsere Zukunft in die Hände einer Masse zu legen, die mich selber an der Demokratie zweifeln lässt.“

„Aber was die Demokratie kaputt macht, bist doch du, wenn du so denkst.“

„Das weiß ich ja. Das weiß ich. Und denk nicht, dass ich mich nicht dafür schäme. Aber genau da liegt die Krux. Je mehr ich mich schäme, desto mehr fürchte und verabscheue ich eine Mehrheit, die mich so denken lässt. Wer hat die Diktatoren dieser Welt denn gewählt? Oft genug die Mehrheit.“

„Und dann lieber gleich Diktatur?“

Yaren schwieg. „Ich weiß es nicht. Ich kenne keine guten Diktaturen. Aber angenommen, ihr wärt Alleinherrscher. Keine Gremien, die euch zustimmen müssen. Alle Macht ruht auf euren Schultern. Was würdet ihr entscheiden? Sagt mir nicht, dass die Vorstellung nicht verlockend ist. Und zwar nicht, weil alles euch gehört, sondern weil ihr die Möglichkeit habt, alles besser zu machen. Ihr könnt gerechte Löhne einführen, Tempolimits, verbesserten Datenschutz, ihr könnt das ganze Internet von Hasskommentaren bereinigen lassen und Massentierhaltung verbieten. Stellt euch vor, jemand wie ihr wäre Diktator …“

„Das würde vielen nicht gefallen“, bemerkte Katja, „Und sie hätten kein Recht, das zu sagen?“

„Du bist nicht gezwungen, es ihnen zu verbieten.“

„Warum machen es dann alle Diktatoren?“, fragte Noah, „Alle Diktatoren haben die Meinungsfreiheit eingeschränkt und keiner hat die Massentierhaltung verboten. Wieso glaubst du, ist das so?“

„Das habe ich mir auch gesagt. Aber denkbar wäre eine gerechte Diktatur zumindest. Denkbar wäre eine Diktatur, die viel besser funktionieren würde als die Demokratie und es ist immer leicht, zu sagen, dass eine Möglichkeit nicht funktioniert, weil sie noch nicht aufgetreten ist. Zu leicht, um mich zu überzeugen. Ich sage es noch mal: Ich will euch doch glauben. Ich führe diese Diskussion nur, weil ich hoffe, sie am Ende zu verlieren. Wenn ihr es irgendwie könnt, dann widerlegt mich.“

Eine Pause trat ein. Yaren blickte hinauf zu den Fahnen, die im Wind flackerten wie Feuer. Hinter ihnen in der Stadt glühten wie Funken die Lichter. Der Feierabendverkehr ließ nach und die Gemütlichkeit erleuchteter Fenster kehrte in den Straßen ein.

Hochhäuser aus mehr Wohnungen und mehr unterschiedlichen Leben, als jemand sich vorstellen konnte. Straßen knüpften sich zu einem dichten Netz, Brücken schwangen sich über die Spree. Das Tag gab dem Nachtleben die Klinke in die Hand.

Vanessa stieg in die Bahn Richtung Bernau. Fröstelnd schüttelte sie die abendliche Kälte von sich. Der Wagen war mäßig voll. Leere Blicke, die an der Welt vorm Fenster hingen oder an Displays, die sie die Welt eine Weile vergessen ließen.

Vanessa setzte sich auf einen freien Platz und zog ihr eigenes Handy aus der Tasche. Tausend Posts, tausend Nachrichten in den wenigen Sekunden, die ein Mensch brauchte, um eine Bahn zu betreten. Die wenigsten davon sagten mehr, als dass sie wütend waren. Warum macht es dir Spaß, sie zu lesen?

Es war nicht so, dass sie sich die Frage nicht stellte, während sie durch den bissigen Spott der Netzwerke scrollte. Es war nicht so, dass die Antwort sie nicht interessierte. Es war nur so, dass eine zweite Frage lauter wurde, bevor die erste zu einer Lösung fand: Warum stellst du dir die Frage? Niemand fragte sich, was Menschen an Boxkämpfen, Ringen oder Hahnenkämpfen interessierte. War es nicht ein Fortschritt, wenn sich Gewalt verbal im Netz entlud?

Meinungsfreiheit. Das war eben Meinungsfreiheit. Vanessa mischte sich in Diskussionen nicht ein.
Sie bevorzugte es, die Eskalation von weitem zu beobachten. Es war wie kultivierter Katastrophentourismus. Sauberer als die Jagd nach einem Tornado. Keine Verletzten, keine Toten, aber die Gesellschaft schenkte einer beleidigten Seele inzwischen mehr Aufmerksamkeit als einer gebrochenen Nase. Schlägereien, Gebrüll, das war die primitive Sprache der Wut. Schrift war ihr feineres Instrument. Wer konnte nicht mit dem Internet umgehen?

Waren es wirklich die Hater oder die labilen Gestalten, die es nicht schafften, ein Handy auszuschalten, wenn es ihnen besser getan hätte? Hass gehörte zur Menschheit wie Trauer oder Ekel. Nur seine Form änderte sich und das schien einigen Angst zu machen. Glaubten Politiker, ihr Volk hätte vor dreißig Jahren nicht dasselbe gesagt, was es ihnen jetzt unter ihre Posts warf? War es falsch, wenn jeder eine öffentliche Stimme hatte?

Das ist Meinungsfreiheit. Das größte Maß an Meinungsfreiheit und ausgerechnet diejenigen, die sich für besonders gewissenhafte Demokraten halten, kommen damit nicht zurecht. Die bissigste Spötterin ist und bleibt die Wirklichkeit.

Maya versuchte, ruhig zu atmen. Sie versuchte, nicht auf ihr pochendes Herz zu achten. Das beunruhigte sie nur. Ein Herz war so ein verletzliches Ding. Kein Organ bot mehr Widerstand als die Haut einer Nacktschnecke. So viel Blut in einem Menschen und nur ein einziger Muskel musste ausfallen, damit jedes dieser empfindlichen, wurmweichen Bauteile in Sekundenschnelle verendete. Die Vorstellung ließ sie würgen.

Maya stand im Bad vorm Spiegel. Mit geschlossenen Augen. Sie ertrug es nicht, sich anzusehen.
Abfall! Abfall bist du! Und was passiert mit Abfall?

Am liebsten hätte sie sich auf der Müllkippe entsorgt, um jemand anderes sein zu dürfen. Das halbe Land kannte bestimmt schon ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Adresse. Wie viele Einwohner hatte Deutschland noch mal? Ach was, Deutschland. So ein Post konnte doch um die ganze Welt gehen.

Als ob sich irgendjemand im Ausland für eine kleine, deutsche Politikerin interessiert.
Und wenn doch? Es war die Unsicherheit, die Angst vor dieser winzigen Chance, dass es passieren könnte. Was sollte sie machen? Sich verstecken? Wo? Welcher Ort, an dem sie absolut niemand kennen konnte? Wer wusste denn, was diese Hater anstellten?

Ihre Netzwerke durchseuchten das Internet wie Schimmelsporen. Hatten sie einem ihren Shitstorm vor die Füße gespuckt, war es wie eine Reviermarkierung für die restliche Meute. Sie teilten Bilder, rissen Sätze aus dem Kontext und entstellten dich, bis du dich selbst nicht mehr in dem wiedererkanntest, was die Welt von dir hielt.

Ruhig atmen. Ruhig atmen.

Zitternd sank sie auf den Boden. Das Bad hatte kein Fenster. Niemand konnte sie sehen. Absolut sicher. Zu was konnte man verkommen? Zu was konnten Worte einen machen? Diese leeren Accounts, hinter denen ab und zu nicht einmal Menschen steckten.

Hinter einigen doch. Hinter manchen stecken Menschen, die sich einen Dreck um dich scheren.
Mit einem Hass, vor dem Maya selbst erschrak, dachte sie an jene Menschen. Wie sie jetzt vor ihren Handys, Computern und Fernsehern saßen. Sie schauten Filme und gingen dann ins Bett. Sie trieben andere in den Selbstmord und starben am Ende ihres Lebens mit reinem Gewissen.

„Ich bin nicht der Ansicht, dass Kunst alles darf.“ Cem überquerte den Alexanderplatz, an seinem Ohr ein altmodisches Tastenhandy.

„Dafür ist Kunst da“, quäkte es aus dem Lautsprecher, „Kunst soll provozieren. Sie soll zum Nachdenken anregen.“

„Wirklich? Ist es in dieser Zeit nicht die größte Kunst, niemanden zu provozieren? Ich sag dir: Brände haben wir da draußen genug. Ein bisschen Feuer hält den Verstand wach. Aber es gibt eine Zeit, um Öl in die Flammen zu gießen und es gibt eine Zeit, die Wasser braucht. Lass uns die Inszenierung noch mal überdenken.“

„Sollen wir etwa vor genau denen einknicken, die daran schuld sind? Sollen wir uns von diesen Brandstiftern jetzt auch noch unsere Kultur diktieren lassen? Dann aber gute Nacht, Deutschland.“

„Merkst du nicht, wie wir denen in die Hände spielen, indem wir sie angreifen? Die wollen sich doch als Widerstand fühlen. Machen wir sie einfach nicht dazu.“

„Mach ich auch nicht. Denn wir sollten deren Widerstand sein. Stattdessen kriechen wir denen in den kackbraunen Arsch!“

„Klasse. Wir benehmen uns lieber auch wie die Kleinkinder, anstatt zu zeigen, wie es vernünftig laufen kann. Es geht hier doch nicht um Widerstand oder keinen Widerstand. Es geht um das Ziel, das wir damit erreichen. Immer noch mehr Dreck in die Schlammschlacht werfen. Soll das unsere Zukunft sein?“

„Wo siehst du unsere Zukunft denn?“

Cem seufzte und merkte, wie seine Finger instinktiv nach der Zigarettenpackung in seiner Tasche tasteten. Er dachte, er hätte sich das abgewöhnt. „Auf dem Friedhof“, antwortete er leise genug, um durchs Telefon nicht verstanden zu werden. „Manchmal sehe ich sie nur noch auf dem Friedhof.“

Seine Finger flitzten über die Tastatur. Es war nicht verboten. Er tat, was jeder tun konnte.
Um dich ist es auch nicht schade, wenn dich der IS in die Luft sprengt, du Opfer. Tut mir den Gefallen und sterbt alle als Märtyrer eurer linken Multikulti Ideologie.

Sascha82 schickte den Kommentar ab und lehnte sich zurück. Der Mann im Video betete weiter brav seine Parolen gegen Rassismus runter. Sollte er. Unter Saschas Kommentar plinkten schon die ersten Likes. Weitere Kommentare folgten. Von spitzem Sarkasmus bis zu stumpfen Drohungen war alles dabei.

So funktionierte moderner Wahlkampf und nur um den Sieg ging es dabei. Der Inhalt des Videos war unwichtig. Wichtig war, dass es von einem Gegner kam. Jedem Troll ihrer Armee war das klar. Im Krieg waren alle Mittel erlaubt. Selber schuld, wenn die links-grünen Spacken keinen Gebrauch davon machten. Tja, wenn andere sich beim Fahrradfahren die Augen zubinden, bin ich dann unfair, wenn ich auf den Verkehr achte?

Sascha82 schämte sich nicht. Das hier war Routine. Die Pflicht eines guten Soldaten.

„Heutzutage darf man doch gar nichts mehr sagen. Was schaust du so? Seien wir ehrlich: Alle denken es und kaum einer traut sich, es auszusprechen.“ Kai öffnete sich eine Cola. „Kein Wunder. Weil nur Vollidioten vom rechten Rand die Gegenpositionen zum linken Mainstream gekapert haben. Und jetzt will keiner mehr deren Meinung sein. Versteh’n kann ich‘s. Aber muss da nicht jemand mutig sein?“

Lasses Mundwinkel zuckte undefinierbar. Die beiden Brüder saßen auf dem Balkon und schauten dem Himmel beim Dunkler- und der Welt darunter beim Hellerwerden zu. Berlin glich einem Feld funkelnder Edelsteine. Ketten aus Gold, Setzkästen voller Quarzwürfel.

Im gegenüberliegenden Hochhaus ließen sich die Silhouetten von Menschen beobachten wie eingeschlossene Insekten. Die Partymeile war eine Schlucht, auf deren Grund Saphir und Spinell glitzerten. Karneol glühte neben strahlendem Topas. In der Spree trieb das Licht wie in einem fließenden Spiegel.

„Da muss doch jemand mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen, dass es so nicht weiter geht“, brummte Kai, „Wir können doch nicht zu einem politischen Inselstaat zerfasern, auf dem du nur noch sagen darfst, was deine kleine Sandbank hören will. Und wehe du stehst zwischen den Inseln. Wer dazwischen steht, fällt ins Wasser. So ist es doch. Sei ehrlich.“

„Was willst du machen?“, brummte Lasse.

„Weiß nicht, aber wir können die Debatte doch nicht den Trotteln überlassen. Ich kenn da Blogs, die beschreiben dir haarklein, wie du Schwarze, Frauen und Homos mit Samthandschuhen anzufassen hast und schreiben auf der gleichen Seite, dass es voll okay ist, weiße Männer zu beleidigen, weil die sind ja nicht marginalisiert, oder wie das heißt. Muss doch noch ‘ne Möglichkeit geben, dagegen zu sein, ohne dass du gleich dafür bist, alle Flüchtlinge abzuschieben und so.“

„Moderat ist halt nicht mehr hip“, meinte Lasse, „Glaub allerdings, die meisten Menschen sind‘s immer noch. Also kein Grund zur Sorge. Moderat fällt bloß nicht so auf. Darum haben alle das Gefühl, ganz alleine in der Mitte zu stehen.“

„Kann man nur hoffen.“ Kai reichte seinem Bruder eine zweite Flasche.

Jan blockte den Account.

Miri_der_Zwerg: Ich finde gendergerechte Sprache grundsätzlich gut, aber …

Jan blockte den nächsten Account. Das Thema war nicht diskutabel. Selfcare. In den Netzwerken herrschte ein raues Klima. Wer seine Bubble nicht reinhielt, konnte schnell unter konservativem Müll ersticken. Mit denen lohnte sich die Auseinandersetzung sowieso nicht. Null Toleranz für rechts. Wer Frauen sprachlich ausschloss, hatte Jans Energiereserven nicht verdient.

Ich bin ja grundsätzlich deiner Meinung … So fingen sie alle an. Dann kam das Aber und dahinter entpuppten sich die User*innen doch als Nazi. Durfte er solche Leute nicht Nazi nennen? Sie waren eben welche. Sie begriffen es bloß nicht. Das war das Schlimme.

Obereinhorn: Aber wenn du eh alle blockst, die nicht 100 % deiner Meinung sind, was bringt es dir denn dann, deine Meinung zu schreiben, wenn sie nur von Leuten gelesen wird, die das sowieso denken?

Jan blockte den Account.

Lieber Gott,

Der Kugelschreiber kratzte auf dem Papier eines Notizblocks.

Ich war mir nie sicher, ob ich an dich glauben kann. Wenn ja, dann bist du eine abstrakte Gewalt für mich, die sich so wenig anfassen lässt oder mir zuhören kann wie die Physik. Ich weiß nicht, warum ich dir schreibe. Wahrscheinlich, weil sonst auch niemand zuhört. Ich habe der Welt so viel zu sagen.

Ich sehe so viel Ungerechtigkeit, Feindschaft, Vorurteile, Intoleranz und Unverständnis in unserer Gesellschaft und ich weiß, dass meine Ideen etwas bewirken können, selbst, wenn sie vielleicht nicht den ganzen Planeten retten. Ich habe es versucht. Aber wo lässt sich noch sachlich über Ideen reden, wenn sogar diejenigen, die wie du für eine bessere Welt zu kämpfen meinen, eigentlich nichts ändern, sondern nur recht haben wollen?

Wo wird Vernunft nicht zwischen Extrempositionen zerfetzt, von Häme zertreten und zur Unterhaltung aufbereitet? Wo in dieser Gesellschaft suchen die Menschen ernsthaft nach gedanklicher Tiefe unter dem Entertainment? Ich habe den Eindruck, die Kinos machen nur deshalb so schlechte Einnahmen, weil die politische Eskalation zum neuen Kino geworden ist. Und weil das so ist, kippen diejenigen, die nichts davon verstehen, Spiritus ins Feuer.

Nicht, weil sie sich plötzlich für unsere Zukunft interessieren, sondern, weil sie ihr gerne beim Brennen zuschauen. Es ist wie beim Rugby: Ein Knäul aus Menschen liegt am Boden und der Ball ist längst weggerollt. Aber die Vernünftigen trauen sich nicht, ihn aufzuheben aus Angst, als nächstes unter dem wilden Haufen begraben zu werden.

Das soll heute Politik sein? Das nennen sie Meinungsfreiheit? Wenn jene, die wirklich etwas zu sagen haben, es nicht mehr sagen können, weil andere lauter schreien? Einen Staat, in dem nur die Stärksten gewinnen, nenne ich Barbarei. Einen Staat, in dem nur die Lautesten gewinnen, ebenfalls. Ja, wir verkommen zur Barbarei. Im Namen der Freiheit.

Die Tabletten schmeckten bitter. Sie schmeckten genau, wie man sich den Tod vorstellte. Sollte er? Ein kurzes Zögern. Ein kurzer, unabsichtlicher Blick auf die Fotos an seiner Pinnwand. Seine Eltern. Nikolas. Hand in Hand mit ihm an der Spree. Als noch alles gut gewesen war.

Tut mir leid, Nik. Ich habe mein Bestes gegeben. Aber die Welt lässt sich nicht besser machen. Die Welt macht dich nur schlechter, wenn du dich zu tief mit ihr beschäftigst.

Er griff nach dem Wasserglas.

Yaren stand immer noch auf der Wiese. Die Sterne auf der Europafahne verblassten im Dunkel der Nacht. Der Himmel zeigte auch keine. Die Lichter der Stadt waren zu hell dafür.

„Ich habe Angst, dass die Meinungsfreiheit an der Meinungsfreiheit zu Grunde geht“, meinte er, „Nein, eigentlich habe ich keine Angst vor der Meinungsfreiheit. Eigentlich habe ich Angst vor den Menschen.“

Quellen: Beim Verfassen des Textes wurde sich um die Abbildung eines möglichst breiten Meinungsspektrums bemüht. Zur Orientierung wurden folgende Quellen herangezogen:

https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/angst-vor-hetze-im-internet-hat-folgen-fuer-meinungsfreiheit-15832646.html

https://www.iwd.de/artikel/interview-ein-mensch-kann-jederzeit-in-eine-meinungsblase-abdriften-511162/
https://www.youtube.com/watch?v=jG1Uy3rSqSc
https://www.youtube.com/watch?v=uI6FgAE-gpM
https://www.youtube.com/watch?v=TsWXwS5qjRk

https://www.youtube.com/watch?v=nAd87WiKZnA (interessant sind auch die unter der Doku geposteten Kommentare)

https://www.sueddeutsche.de/bayern/hate-speech-internet-hass-hetze-georg-eisenreich-verfahren-1.5545841

Und persönliche Erfahrungen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar