Ein sonniger Tag im April, ich bin auf dem Weg nach Leutzsch. Im Senior*innen- und Nachbarschaftstreff „Mittendrin“ – ein Projekt der Heizhaus GmbH – auf der Georg-Schwarz-Straße fand am Vormittag der letzte von vier Workshop-Terminen „Biografisches Schreiben für Senior*innen“ statt. Das Projekt wurde durch das Stadtbezirksbudget finanziert – ein Teil des Leipziger Bürgerhaushaltes, welches es Bürger*innen seit 2021 ermöglicht, Projekte und Ideen im heimischen Stadtviertel umzusetzen.
Kurz warte ich noch vor der Tür, die Teilnehmenden wollen im geschützten Raum ihr (vorerst) letztes Schreib-Treffen beenden. Dann darf ich eintreten und meine Fragen stellen. Wie bringt man das eigene Leben, die eigene Geschichte aufs Papier?
„Zunächst einmal muss man begreifen, dass alles, was man schreibt, biografisch ist“, erklärt mir Ines*. Sie kommt seit einigen Jahren regelmäßig ins „Mittendrin“, führte früher gemeinsam mit ihrem Mann selbst einen Treff für ältere Menschen im Viertel. Ines hat bis zur Rente als Bibliothekarin gearbeitet, den Hang zum geschriebenen Wort hat sie seitdem nicht verloren.
Trotzdem schätzte sie es, im Kurs zum Schreiben „gezwungen“ worden zu sein. Denn wie so vieles im Leben müsse man es vor allem wollen – und üben. „Das Wichtigste aber ist, dass man überhaupt schreibt.“ Schreibend hat die 85-Jährige vor Jahren einen schweren Schicksalsschlag verarbeitet.
Es hat ihr damals geholfen, Gedanken, Erinnerungen und Emotionen auf Papier zu bringen. „Mit dem Schreiben kann man innere Ruhe erreichen. Deshalb denke ich, dass alles, was mich dazu bewegt, Worte aufs Papier zu bringen, positiv ist.“
Und dümmer werde man ohnehin nicht. Extra für den Kurs hatte sie sich ein Ringbuch gekauft. „Damit ich die Seiten, die mir nicht gefallen, wieder herausreißen kann“, schmunzelt die Seniorin.
Ins Schreiben kommen
Langsam, mit aufwärmenden Impulsen und Übungen tastete sich die Gruppe immer mehr an das kreative und freie Schreiben heran. Zum Beispiel über das Beschreiben eines mitgebrachten Erinnerungsgegenstandes. Aus Beobachtungen entspannen sich so schnell geteilte Geschichten. Meist waren sie zu sechst, nach und nach wuchs das Vertrauen, einander das Geschriebene vorzulesen. „Wir haben hier beim Vorlesen richtige Gänsehaut-Momente erlebt“, beschreibt mir Ines ihr Erlebnis.
Es ging also nicht nur um das Aufschreiben der eigenen Geschichte, sondern auch um das Zuhören. Dieses Miteinander könne helfen, um für sich selbst neue Impulse und Neugier zu entwickeln, erzählt Carina, die den mehrwöchigen Workshop angeleitet hat. Carina arbeitet freiberuflich als Workshop-Leiterin, Mediatorin und Leiterin von Schreibwerkstätten. Der Impuls für das Projekt im „Mittendrin“ kam von ihr, schnell war man sich mit der Leitung des Senior*innentreffs einig.
Sie selbst bemerke langsam bei ihren Eltern den Impuls, mehr über vergangene Erfahrungen zu sprechen, die eigene Geschichte zu teilen. Was Carina bei ihren Großeltern versäumte, möchte sie nun bei ihren Eltern nicht missen. Das heißt: mehr Fragen stellen, mehr Zeit nehmen zum Zuhören – wofür ihr als jüngerer Mensch vielleicht manchmal die Geduld fehlte.
„Ich denke, durch das Teilen der Erinnerungen gehören sie auf gewisse Art auch dem anderen. Man nimmt die Menschen mit in die Erinnerung und erhält durch den Blick zurück gleichzeitig eine neue Perspektive für die Zukunft. Eigenes Erleben zu reflektieren, aber auch aus der Erfahrung heraustreten und neu auf etwas zu schauen – das gibt mir viel Kraft.“ Diese Art des Sich-Mitteilens und der gemeinsamen Reflektion möchte sie gern weitervermitteln. Mit Erfolg, wie ihr Kursteilnehmende oft bestätigen.
Vergleich für Verständnis
Um sich selbst besser zu verstehen, scheint der Vergleich – ein Wort, welches gerade in der Persönlichkeitsentwicklung und unter aktueller „Ich-bin-mir-selbst-am-nächsten-Marktlogik“ wohl eher negativ konnotiert ist – ein ganz essenzieller Bestandteil zu sein. „Warum lesen Menschen beispielsweise so gern Biografien? Vielleicht liefern die Geschichten der anderen Vergleichsmöglichkeiten zum Selbst und somit wieder einen neuen Blick auf eigene Erfahrungen“, erklärt Carina.
Und Ines? Wird sie sich daransetzen, ihre Memoiren auf Papier zu bringen? „Nein.“ Sie lacht ein wenig. „Ich möchte meine Erfahrung schon nach außen tragen, aber nicht schriftlich. Ich brauche dazu noch immer Verarbeitungszeit.“ Noch immer fühle sich die 85-Jährige nicht vollständig angekommen. Was sie meint, ist die Wende, die sie aktiv in Leipzig miterlebte.
„Es gibt einfach noch immer zu viele Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann.“ Ines gehörte zu der ersten Generation, welche im Sozialismus der DDR zur Schule gingen. „Als Kind aus einer Arbeiterfamilie wurde ich gefördert, durfte Abitur machen.“ 1957 zog es sie zum Studium nach Leipzig.
Nun ist Ines Rentnerin, lebt ein aktives Leben und blickt zurück auf all ihre Erfahrungen – auch jene, die große Umbrüche bedeutet haben. Dazu hat sie eine klare Einstellung: „Entweder man verbittert und verbiestert oder man versucht, sich mit dem, was man noch gut ertragen kann, wieder neu einzurichten.“
Sie hat sich eingerichtet – in Leipzig-Leutzsch, wo sie sich wohlfühlt. „Als ältere Person kann man hier gut leben, es gibt viele Angebote und Möglichkeiten.“ Und an einem Fortsetzungskurs des Schreibprojekts würde sie auch wieder teilnehmen.
*Name von der Redaktion geändert
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