Die drei Monate Pilotprojekt mit dem 9-Euro-Ticket haben nicht nur gezeigt, wie reformbedürftig das alte Tarifsystem im deutschen ÖPNV ist. Sie haben auch gezeigt, dass dieses alte und teure Tarifsystem auch der Hauptgrund dafür ist, dass Menschen in Bahnen und Bussen ohne Ticket angetroffen werden. Die Ermittlungen wegen „Leistungserschleichung“ gingen deutlich zurück.

Das fasste das Sächsische Justizministerium jetzt einmal in Zahlen zusammen.

Danach melden die sächsischen Staatsanwaltschaften einen deutlichen Rückgang der Zahl der Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB) während der Geltungsdauer des „9-Euro-Tickets“.

Wurden noch in den Monaten Januar bis April 2022 zwischen 678 und 916 Ermittlungsverfahren wegen Leistungserschleichung eingeleitet, betrug die Anzahl neuer Verfahren in den Monaten Juni 121 (Juni 2021: 898), im Juli 96 (Juli 2021: 923) und im August 47 (August 2021: 933).

Ein Gesetz aus der NS-Zeit

Nur zur Erinnerung: Auch dieser 265a StGB stammt noch aus der Zeit der NS-Diktatur und atmet diesen Geist auch noch. Auch wenn es nur um das Schließen einer Lücke ging, die damals entstand, weil die Verkehrsunternehmen ihr Schaffnerpersonal einsparten und die Fahrgäste damit quasi in die Schuld setzten, sich selbst einen Fahrschein zu besorgen.

Nur durch diese Schuld-Konstruktion wurde der Begriff Leistungserschleichung legitimiert und damit auch kriminalisiert.

Dass diese Praxis in die Klamottenkiste gehört, stellte am Mittwoch auch Justizministerin Katja Meier fest: „Strafrecht muss ultima ratio sein. Es ist an der Zeit, das Fahren ohne Fahrschein aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Unsere Zahlen zum 9-Euro-Ticket zeigen deutlich, dass durch eine kostengünstige und allgemeine Fahrpreisgestaltung Straftaten der Beförderungserschleichung drastisch reduziert werden.“

Und ein erschwingliches ÖPNV-Tivcket führe nicht dazu, dass statt des Autos der klimafreundliche ÖPNV genutzt wird, so Katja Meier.

„Sondern es führt auch zu einer Entlastung unserer Gerichte und letztlich der Gefängnisse. Dies spart Kosten für die Allgemeinheit. Denn etliche Geldstrafen wegen Fahrens ohne Fahrschein werden letztlich als Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis vollstreckt, weil die Geldstrafe aus sozialen Gründen durch die Betroffenen nicht beglichen wird.

Mit solchen, meist kurzen Freiheitsstrafen ist der Gesellschaft jedoch nicht geholfen, gerade Sozialschwache sind davon besonders betroffen. Wir können unsere Ressourcen besser einsetzen. Deshalb sollte der Bundesjustizminister nun schnell einen Gesetzesentwurf vorlegen, mit dem das Fahren ohne Fahrschein entkriminalisiert wird.“

Ein Strafbestand für die Tonne

Zuletzt beschäftigten sich die Justizministerinnen und Justizminister auf der Herbstkonferenz in Berlin mit dem Thema „Fahren ohne Fahrschein“. Im Ergebnis wurde der Beschluss gefasst, das Fahren ohne Fahrschein soll künftig nicht mehr als Straftat gewertet und der bisher geltende Straftatbestand (Paragraf 265a Abs. 1 StGB) ersatzlos gestrichen werden.

Die Justizministerinnen und Justizminister baten daher den Bundesminister der Justiz, im Zuge der geplanten Modernisierung des Strafrechts, auch die Aufhebung der Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrschein in den Blick zu nehmen und diesbezüglich einen Gesetzesvorschlag zur Aufhebung der Strafbarkeit zu unterbreiten sowie den entsprechenden Gesetzgebungsprozess anzustoßen.

Das Sächsische Justizminister hat – basierend auf dem Tageshaftkostensatz des Jahres 2020 – einmal die Kosten für die Vollstreckungen der Ersatzfreiheitsstrafen berechnet.

(Einen Kommentar zu den Ersatzfreiheitsstrafen finden Sie hier.)

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.

2021 kostete die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in Sachsen insgesamt: 9,81 Millionen Euro (70.044 Tage x 140,13 €), davon entfielen auf den § 265a StGB 1,21 Millionen Euro (8.651 Tage x 140,13 €).

2020 kostete die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen insgesamt: 11,67 Millionen Euro (83.228 Tage x 140,13 €), davon entfielen auf § 265a StGB 1,23 Millionen Euro (8.781 Tage x 140,13 €).

Entwicklung der Ermittlungsverfahren

Die Entwicklung der bei den sächsischen Staatsanwaltschaften in den Jahren 2021 und 2022 bisher anhängig gewordenen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB) unter Berücksichtigung der Tatzeitpunkte vom 1. Januar 2021 bis 31. August 2022 stellt sich wie folgt dar:

2021
Januar: 1.041
Februar: 835
März: 1.125
April: 1.028
Mai: 958
Juni: 898
Juli: 923
August: 933
September: 977
Oktober: 850
November: 781
Dezember: 671
Insgesamt: 11.020

2022
Januar: 916
Februar: 736
März: 612
April: 678
Mai: 428
Juni: 121
Juli: 96
August: 47
Insgesamt: 3.634

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