Der frühere Leipziger Stadtrat und ehemalige NPD-Funktionär Enrico B. muss demnächst womöglich wieder mal vor Gericht erscheinen. Die Bundesanwaltschaft wirft dem heute 40-Jährigen sowie zwei weiteren Personen vor, unter dem Dach eines Verlags namens „Der Schelm“ eine kriminelle Vereinigung zum Vertrieb von antisemitischem und nationalsozialistischem Schriftgut gegründet zu haben.

Gerichtsprozesse sind für den Leipziger Ex-Stadtrat Enrico B. nichts Neues. Immer wieder musste sich der einstige NPD-Funktionär über die Jahre vor dem Kadi verantworten, unter anderem wegen Körperverletzungsdelikten, Diebstahls, Beleidigung und zuletzt vor knapp einem Jahr wegen falscher eidesstattlicher Versicherung. Meist ließen ihn die Richter mit einem blauen Auge davonkommen.

Mutmaßlicher Kopf des Verlags ist untergetaucht

Nun aber könnte es für den 40-Jährigen ernster ausgehen: Wie die Bundesanwaltschaft am Freitag, dem 21. Juli mitteilte, wurde gegen Enrico B. sowie Matthias B. und Annemarie K. Anklage beim Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht (OLG) in Dresden erhoben. Die Strafverfolger werfen dem Trio die Gründung einer kriminellen Vereinigung bzw. mitgliedschaftliche Betätigung in selbiger vor, überdies soll auch der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt sein.

Damit sieht jetzt auch der Generalbundesanwalt offenbar hinreichende Belege für das, was Medienrecherchen schon seit langer Zeit nahelegen: Enrico B. soll demnach jahrelang an einem rechtsradikalen und antisemitischen Online-Versand beteiligt gewesen sein. Schon vor fast sieben Jahren hatte die LZ erstmals über die Aktivität des rechtsradikalen Verlags „Der Schelm“ berichtet, Reporter des NDR folgten dessen Spuren später bis nach Leipzig und zu Enrico B. Doch geschah zunächst – nichts.

Erst über vier Jahre nach den ersten LZ-Berichten meldete die Soko Rex des LKA Sachsen im Dezember 2020 Razzien in Lagerräumen sowie Wohnungen in und bei Leipzig, bei denen zahlreiche Bücher und Speichermedien konfisziert wurden, etwa 47.000 Stück mit 900.000 Euro Verkaufswert. Darunter waren unkommentierte Nachdrucke von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ und weitere Werke mit strafrechtlich relevantem Inhalt. Als mutmaßlichen Kopf hinter dem Neonazi-Verlag vermuten Ermittler den international gesuchten Holocaustleugner und Rechtsextremisten Adrian Preißinger.

Bundesanwaltschaft geht von arbeitsteiliger Gruppe aus

Laut Bundesanwaltschaft sollen Enrico B. und seine Partnerin Annemarie K. im August 2018 „gemeinsam mit einer weiteren, als Rädelsführer gesondert verfolgten Person“ unter dem Dach des benannten Verlags eine Vereinigung gegründet haben, um einen dauerhaften Vertriebsweg volksverhetzender Schriften zu schaffen. Diese Texte hätten unter anderem den Holocaust geleugnet und zum Hass gegen die jüdische Bevölkerung aufgestachelt. Spätestens im Februar 2019 habe sich der südbrandenburgische Rechtsextremist Matthias B. der Gruppierung angeschlossen, die dann arbeitsteilig und gegen Entlohnung agiert habe.

Matthias B. soll die Infrastruktur für den Vertrieb bereitgestellt, Bestellungen bearbeitet und Arbeitsaufträge erteilt haben, auch habe er das Drucken und die Bearbeitung von Manuskripten übernommen. Enrico B. und Annemarie K. seien für den Vertrieb zuständig gewesen, sie organisierten demnach den Versand und mieteten Lagerräume an.

Auf diese Weise sollen bis zur Aushebung der Lager in und bei Leipzig über 46.000 strafrechtlich relevante Schriften verbreitet worden sein, geschätzter Gesamtumsatz laut Bundesanwaltschaft: mehr als 800.000 Euro.

Ex-Stadtrat, Ex-NPDler und Zeuge gegen Lina E.

Enrico B., der wegen eines Angriffs auf ihn vor seinem Gohliser Wohnhaus im Lina-E.-Prozess als Nebenkläger und Belastungszeuge aufgetreten war, hatte nach seiner Festnahme im Juni 2022 zumindest vorübergehend wieder ein Gefängnis von innen gesehen. Allerdings wurde der Haftbefehl am 22. August 2022 außer Vollzug gesetzt. Sein mutmaßlicher Komplize Matthias B. war schon eher aus der Untersuchungshaft freigekommen.

Bis 2019 hatte der massiv vorbestrafte Enrico B. im Leipziger Stadtrat gesessen, zunächst für die NPD, die ihren intern umstrittenen Kader 2016 allerdings wegen „parteischädigenden Verhaltens“ nach eigener Aussage herauswarf. Enrico Böhm sprach dagegen von einem Austritt aus eigenem Antrieb. Später agierte er als fraktionsloses Einzelmitglied im Stadtrat, schien seine Aktivität aber zunehmend aus der Öffentlichkeit ins Verborgene zu verlagern.

Nun droht dem gebürtigen Leipziger, sollte er in einem Prozess schuldig gesprochen werden, eine mehrjährige Haftstrafe. Über die Zulassung der Anklageschrift und etwaige Verhandlungstermine vor Gericht ist noch nicht entschieden.

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