Auf der Suche nach Themen, die bewegen, trifft Tanner auf Menschen, die bewegen. So Fanny Kniestedt, die die Veranstaltungen "Am Fuße der Festung" mit Johannes Bühler organisiert. Die Welt ist eben kein stillstehender Stein, alles dreht sich - und wer das nicht sehen möchte, hat eben ein Problem mit seiner Wahrnehmung. Tanner fragte Fanny und Fanny sagte viele bedenkenswerte Sätze. Weil Zuhören nämlich eine große Kunst ist heutzutage.

Guten Tag Fanny Kniestedt, schön mit Dir zu reden. Du organisierst mit Freunden die Veranstaltung “Am Fuße der Festung” für den 27.10.15 im LURU-Kino. Dort wird es eine Lesung mit Johannes Bühler geben. Wer ist das denn?

Guten Tag! Johannes Bühler ist ein junger Schweizer, der, als die Asylrechtsverschärfungen in der Schweiz eingeführt wurden, mit jenen Leuten geredet hat, die davon betroffen waren. Er hat ihre Geschichten, ihre Ansicht protokolliert. Ihnen eine Stimme gegeben. Und da er seit über sieben Jahren einen engen Kontakt zu Marokko hat, hat sich eben die Idee entwickelt, auch jenen eine Stimme zu verleihen, die “am Fuße” Europas gestrandet sind. Jene, die noch auf dem Weg sind.

Und worum geht es bei “Am Fuße der Festung”?

Das ist natürlich eine Herausforderung, das so knapp zu formulieren. Vordergründig erzählen einfach fünfzehn Menschen ihre Geschichte. Die Geschichte ihres Aufbruchs, ihres Weges, ihrer Vorstellungen, ihres Lebens, das sie an jenen Punkt in Marokko gebracht hat. In Zwischentexten erklärt der Autor, wie die EU und ihre Politik direkt mit dem Leben dieser Menschen zusammenhängt. Wie Europa und Marokko im “Kampf gegen illegale Migration” zusammenarbeiten. Und welches Interesse Europas und Marokkos dahinter steckt. Denn Marokko hält es nicht gerade strickt mit den Menschenrechten.

Auch nicht gegenüber der eigenen Bevölkerung. Johannes meinte zu mir “Warum soll ich die Geschichte von jemandem erzählen, wenn der, der es erlebt hat, es doch viel besser kann?” Durch diese Form alleine werden die Menschen menschlich. Man sieht sie reden. Der große Serge aus der Elfenbeinküste redet ganz anders als der 20-jährige Felix aus Nigeria. Durch die Wortwahl und die Attitude wird der Mensch vollständig.

Welche Fragen wurden denn gestellt?

Wie geht der Mensch mit dem um, was er erlebt hat? Wie sieht er seine momentane Situation? All das findet Platz. Deswegen hat Johannes auch ein Buch geschrieben. Das, was in den Medien berichtet wird, greift zu kurz, meint der Autor. Vor allem, weil es oft Effekthascherei ist. Und oft über die Menschen geredet wird, anstatt, dass man ihnen zuhört. Und genau deswegen hat er auch die Leute erst immer als Freunde kennengelernt bevor er erwähnt hat, dass er ein Buch schreiben will. Er ist auch nicht in die Hotspots, wie in die Wälder gegangen. Er wollte den Alltag dokumentieren. Und er wollte nicht danach gehen, wie spektakulär eine Geschichte ist. Sondern einfach aufzeigen, wer diese Menschen sind und wie sie dahin gekommen sind, wo sie sind.

Damit verbinden sich unglaublich viele grundsätzliche Fragen: Hat zum Beispiel ein Marokkaner weniger Grund nach Europa zu wollen, weil er “nur” nicht frei sein kann als langhaariger Marokkaner in Marokko? Wieso denkt Europa entscheiden zu können, dass jemand einen “ausreichenden” Grund hat? Was wollen die Menschen in Europa, wenn sie dort sind? Wie organisieren vor allem Menschen aus dem sub-saharischen Afrika ihren Alltag, wenn ihnen alle legalen Möglichkeiten genommen werden, um sowohl zu arbeiten, zu wohnen und zu reisen? Alle fünfzehn sind unglaublich unterschiedlich. Ihre Herkunft, ihr Alter, ihr Geschlecht, ihre Ausbildung, ihr Werdegang, ihre Gedanken und Ansichten.

Und so wird ein “Flüchtling” eben zu einem “Menschen”. Ganz besonders, weil Johannes auch immer wieder seine eigenen Privilegien erkennt. Und das, weil er jene zu Wort kommen lässt, die diese eben nicht haben. Am Ende stellt sich dann die Frage: Wieso können wir Menschen immer noch einteilen in “wertvolle” und “nicht so wertvoll”, jene, die qua Geburt mehr Rechte haben als die anderen. Und daran nicht mal etwas verwerflich finden.

Und wie hat es Dich selber zu diesem Thema gebracht?

Ich selber habe African Studies in Leipzig studiert und war viele Jahre in Ostafrika. Ich konnte persönlich mitbekommen, wie schwierig es ist für einen Afrikaner, ausschließlich deshalb, weil er Afrikaner ist, ein Visum zu bekommen. Ich reise viel, weil ich lernen möchte und verstehen. Und daher bin ich auch nach Marokko. Eine sehr gute Freundin von mir steckte schon im Thema und fragte, ob ich mit wolle. Und da ich selber weiß, wie erkenntnisreich es ist, sich aus seiner eigenen Zone mal rauszubewegen, finde ich, sollte das auch für alle anderen gelten dürfen. Weil ich Europäerin bin gehört Reiseerfahrung zum guten Ton. Das ist dann “kosmopolit”. Aber wenn mein Kumpel aus der Elfenbeinküste mal Venedig sehen will, kann er das nicht. Und ich finde, dass viele grundsätzliche Fragen nie gestellt werden.

Vor allem die, welche Rolle Europa hat. Und also auch Verantwortung. Und da rede ich ganz besonders von denen, die so stolz auf unsere “Errungenschaft” des Humanismus sind. Wir leben in einer globalen Welt. Und das muss man langsam mal schnallen und kann sich nicht immer auf seiner goldenen Empore die Argumente zurechtlegen, um am Ende vielleicht sogar noch als “großzügig” zu gelten. Selbstgerecht sind wir. Und das muss sich ändern. Je dichter man dran ist, desto schlechter kann man sich über jemanden stellen. Und deswegen gehe ich dort hin, wo die Menschen sind, über die immer als graue, furchteinflößende Masse gesprochen, geurteilt und entschieden wird.

Und deswegen bin ich auch nach Marokko. Denn ich habe in meinen bisherigen Reiseerlebnissen die Erfahrung gemacht, dass man sich Situationen aussetzen muss, um in erster Linie zu wissen, was die eigene Herkunft und die eigene Sozialisierung für einen Einfluss auf meine Sicht auf die Welt hat.

Der rechte Mob, losgelassene besoffene Bürger und Wirre und Irre beanspruchen gerade lauthals und brutal die Meinungshoheit auf den Straßen und an anderen Orten. Dazu generieren sich konservative Parteigänger als Steigbügelhalter der Unmenschlichkeit. Hast Du noch Hoffnung? Wohin reist Europa, was denkst Du?

Ich denke, dass das mal wieder eine Phase ist, die überhaupt nicht neu und noch weniger überraschend ist. Europa polarisiert sich. Vielleicht haben das die Menschen auch mal wieder gebraucht. Im Kalten Krieg war ja auch klar, wer zu wem gehörte. Das ist so schön übersichtlich. Letztlich geht’s immer darum, seine eigene Sippe zu beschützen. Gruppendynamik. Identität. Zum wem gehöre ich? Dazu braucht es Kriterien. Oft werden emotionale Kriterien angewendet. Und das ist dann das, was aus dem natürlichen Beschützerinstinkt Angst werden lässt.

Mit Worthülsen wie “Kultur” und “Tradition” werden die Menschen gegen “die anderen” mobilisiert. Wenn man mal jemanden fragt, was das denn sein soll “ihre Kultur” dann kann eigentlich nie jemand so richtig konkret sagen, was das ist. Das ist auch normal. Denn der Inhalt ändert sich immer je nach Input. Aber darüber denkt man nicht so gerne nach. “Weiß doch jeder, was gemeint ist” heißt es dann oft.

Dem kann ich folgen, trotzdem stellt sich die Frage, ob diese Angst systemtragend ist – oder sein muss?

Die Angst vor dem Anderen, die entsteht besonders in Gegenden, wo es keinen Kontakt gibt. Auch das ist keine neue Erkenntnis. Aber wir tun immer alle so, als sei das was ganz Neues. Auch die Tatsache, dass sich Menschen von A nach B bewegen ist nichts Außergewöhnliches. Das ist das Überlebenskonzept des Homo Sapiens. Doch es müssen offensichtlich immer wieder die gleichen Erfahrungen gemacht werden. Ich finde, Europa könnte mal anfangen, die Relationen zu sehen. Und sich vor allem nicht so wichtig zu nehmen. Wir sind noch so sehr von unserer Überlegenheit überzeugt, die ihren Ursprung im Kolonialismus hat, dass wir gar nicht darauf kommen, dass wir uns gar nicht humanistisch fühlen können, weil man nichts geben kann, was man vorher weggenommen hat.

Entweder wir lernen aus dem, was Soziologen, Historiker und Zeitzeugen immer wieder erklären. Oder wir machen die gleiche Scheiße wieder und lassen uns gegenseitig aufhetzten im Namen unserer “Kultur”. Das Ziel ist dasselbe, nur die Argumente sind andere. Mal ist es Gott, mal der Humanismus, oft ist es im Namen des Konsums. Bei Hitler war es der Jude. Verallgemeinerungen funktionieren auch immer super, weil man dann wieder nicht weiter nachdenken muss. Und “der Flüchtling” ist auch nicht per se “süß und nett”.

Es sind halt Menschen. Und das muss Europa mal schnallen und von seinem hohen Ross runter kommen. Sonst wird es soweit kommen, dass sich die gleichen Abschottungsdynamiken abspielen, wie schon zu Zeiten, wo der Limes gebaut wurde, die chinesische Mauer, die Mauer zwischen Israel und Palestina, die Mauer, die Ost- und Westdeutschland trennte und viele schöne andere Mauern und Grenzen dieser Welt zu jeder Zeit. Mit immer den gleichen Argumenten, die die einen gegen die anderen aufstacheln.

Was kann jeder Einzelne aber tun?

Der Einzelne kann meiner Meinung nach mal anfangen, darüber nachzudenken, ob es so, wie es ist, rechtens ist. Und wieso wir es, wenn, dann rechtens finden. Der Einzelne könnte bei sich anfangen und mal hinterfragen, wieso es in Ordnung ist, dass ich meinen Kaffee für 1,20 Euro kaufen kann und dann denke, geflüchteten Menschen wird “einfach so” ein Zimmer gegeben. Dass das ungerecht sei, denn die haben nicht so wie ich 40 Jahre lang Steuern bezahlt! Ich persönlich gebe zu, dass ich noch nicht 40! Jahre lang Steuern bezahlt habe – aber ich glaube auch, die Wenigsten von denen, die das grölen, haben das getan. Es werden falsche Zusammenhänge geknüpft. Denn diese Menschen verschaffen uns ein angenehmes Leben. So angenehm, dass du sagen kannst, du seist so arm und deshalb musst du bei primarkt oder kik einkaufen. Wie sonst soll man sich einmal pro Woche shoppen leisten können?

So angenehm, dass man Zeit hat, sich darüber aufzuregen, wenn Baumäste zu weit in die Fahrbahn reichen. Man könnte mal darüber nachdenken, warum wir bestimmte Privilegien haben, die wir auch noch als gerechtfertigt empfinden. Mir hat das sehr geholfen, um auch im Alltag bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Nicht immer zu sagen “Das bringt doch eh nichts, wenn ich mich ändere, ich bin ja nur ein kleines Rädchen”. Das ist letztlich eine Ausrede. Man muss seine eigene Rolle erkennen und dann die Verantwortung übernehmen, die man hat.

Das heißt letztlich, versuchen so zu leben, dass es eben all diese Ungleichheit nicht geben müsste. Und damit fängt man an, wenn man sich erstens seiner Privilegien bewusst ist und zweitens Menschen als Menschen sieht. Und nicht als “Gruppe” eingeteilt in Farbe, Geschlecht, Nasenlänge … ich muss nicht mit allen Freund sein. Aber wie ging der Satz gleich “Was du nicht willst was man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.” Schlauer Satz.

Johannes Bühler sagte noch: Wir müssten jedem das Recht auf Bewegungsfreiheit einräumen. Und das ist der Knackpunkt. Wir müssten aufhören, Unterschiede zu machen. Aufhören, Menscherechte zu verfassen und dann im Nebensatz zu sagen “aber nur für uns, nicht für euch aus den und den ‚humanistischen’ Gründen.”

Nun ist es ja so, dass man davon ausgehen kann, dass zur Veranstaltung ins LURU-Kino eher Interessierte an Zusammenhängen kommen. Nur sehe ich – zum Beispiel in der Straßenbahn – eher Leute, die überhaupt kein Interesse an Tatsachen haben, Menschen, die doch eher nur ihre Vorurteile bestätigt bekommen wollen. Wie erreichen wir diese überhaupt noch? An Tatsachen glauben diese ja nicht mehr.

Es stimmt, das Luru Kino ist schon für ein gewisses Klientel. Das kann man nicht leugnen. Aber ich habe es vermieden, die Lesung in linken Zentren oder auch Aktivisten-Kreisen zu veranstalten. Oder aber auch dort, wo Flüchtlings-Themen an sich besprochen werden. Ich wollte es genau deshalb als eine offene, ganz normale Veranstaltung arrangieren. In der Hoffnung, dass die momentane Aktualität des Themas Menschen aufmerksamer für eben solche Veranstaltungen werden lässt. Denn dieses Buch, solche Lesungen, sind, denke ich, schon ein guter Weg – zu versuchen, eine persönliche Ebene zu schaffen.Das Wort “Flüchtling” zu personalisieren. Und vor allem zu entdämonisieren.

Wer sich kennt, kann nicht mehr so schnell jemanden verurteilen. Man muss sich nicht mögen. Aber man erkennt, dass das da ein Mensch ist. Das ist meine Überzeugung. Und das Buch gibt zumindest die Möglichkeit, 15 von diesen Leuten kennenzulernen.

Ich wünsche Euch nicht nur einen vollen Raum – nein, auch einen zivilisierten Umgang am “Fuße der Festung”. Danke, für Deine Zeit, Fanny.

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