„Wir schaffen das!“ Diesen Satz gebrauchte ich Anfang dieser Woche vor dem Deutschkurs der 12. Klasse. So kurz vor dem Bildungsabschluss, der einer Fahrschulprüfung gleichkommt, sind die „Großen“ manchmal Spitze auf dem Weg zum „Erwachsensein“ in unserer Gesellschaft. Sie emanzipieren sich dann als Konsumenten. „Brauche ich Mathe, habe ich davon noch genug im Abi-Kühlschrank? Am Nachmittag gibt gerade ein noch ganz brauchbarer 72-jähriger reaktivierter Spätrentner kostenlos Nachhilfe … Sollte man da nicht zuschlagen? Bei der ‚Herbstferien-Edition‘? Ist ein Angebot.“

Goethe und Schiller können da schon mal verpennt werden. Oder? Erfahrene und bodenständige Gymnasiasten ohne Migrationshintergrund sind da tapfer beim morgendlichen Verschlafen. Der afghanische Mitschüler hingegen sitzt in stoisch-südasiatischer Disziplin vor seinen Unterlagen, so als sollte ich im nächsten Moment den Frühsport auf dem Schulhof anpfeifen. Auch Sonja – ursprünglich aus Woronesh – schaut mich an, dass ich mich nicht für meinen Großvater schämen muss, der vor Stalingrad lag … Alles gut? Nichts ist gut. Und mir fehlt die Tafelüberschrift.

In solchen schwierigen Momenten mache ich es mir manchmal selber schwer. Unnötig? Das weiß ich nicht. Wenn gar nichts hilft, die Bibel hilft immer, denke ich. Also zitiere ich Matthäus. 4, 19. „Ich will euch zu Menschenfischern machen.“ Das „Folget mir nach …“ lasse ich geflissentlich beiseite, dann wäre gleich wieder Aufstand im „Kuhstall“. „Kuhstall“ – wieso? Ein ständiges Thema, Problem, immerwährender Schwerpunkt: Wie engagieren wir uns? Was tun wir, um aus der Sattheit, der Trägheit, der Sucht, dem Stress, der daraus folgenden Ablenkung des Alltags hervorzukriechen, aufzublicken zu einer Vision, die mehr als die Täuschungen der Vergangenheit und die Konsum-Angebote der Vorweihnachtszukunft verheißt? Ich zitierte zuletzt aus einem Liedtext des Bochumer Musik-Pädagogen Herbert Grönemeyer, aus seinem 1984er-Album. Fast vergessen, war damals wichtig für die Anti-Kriegs-Bewegung im Jahrzehnt der drohenden Atomapokalypse. In „Jetzt oder nie“ heißt es: „Wie eine träge Herde Kühe schaun wir kurz auf und grasen dann gemütlich weiter.“

Wir schaffen das. Aber wer ist „Wir“? Wir Schüler? Wir Lehrer? Wir Deutschen? Stimmt und stimmt nicht. Wir sind weder die einen, noch die anderen. Keine „Kühe“ und keine „Querdenker“. Es reicht schon, wenn wir Menschen sind. Dann kommt das „Querdenken“ ganz von alleine. Irgendwann. Dann braucht man auch keine bevorstehenden Nachtfröste oder baldigen Glühweintaumel, um durch das besinnliche „Zeitfenster“ des Jahres zu blicken. Dann wird man erinnert an einen Typen, der  das „Wir-schaffen-das“ mit einem „Ich-schaffe-das“ durchkonjugierte  und in punkto „Vision“ nicht aufblickte, sondern irgendwann auch den Durchblick hatte. Manchmal heißt „Querdenken“ einfach nur sich zu erinnern, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen. Menschliches Verhalten nur auf Grundintentionen zu reduzieren, fällt über die Jahrhunderte nicht schwer: Friedlich, frei, ohne Hass und Furcht. Das ist Geschichtsunterricht. Nicht Deutsch. Aber niemand sagt etwas. Alles gut.

Wozu braucht es dann „menschenfischende Querdenker“? So ganz ohne staatliche Förderung? „Es gibt doch so viele andere …“ heißt es beim Bochumer Barden. Individuell bleiben und sich als Teil einer „Bewegung“ verstehen – das ist die Gratwanderung auf dem Weg zum „Querdenker“. Der beachtet werden will. Anerkannt sein will. Immunisiert gegen die Kränkungskonstrukte des Netzes, die der bisweilen so entmutigenden Soziokultur. Der auf Vorwürfe – „Sie sind ja ein Revoluzzer!“ – vielleicht die Antwort hat: „Du sagst es.“ (Markus 15, 2)

Welche „Bewegung“? fragt Max. Gute Frage. Eine überparteiliche, überinstitutionelle, über … Ich weiß es nicht genau. Vielleicht gibt es sie ja schon und wir sehen sie nur noch nicht. Aber bis wir sie sehen, können wir ja schon einmal für sie „üben“. Wie? Indem wir andere „Apps“ ausprobieren? „Datenmüll“ entsorgen? „Festplatten defragmentieren“? Keine Angst vor „fremden Betriebssystemen“ haben? In unser gelobtes Land strömen gerade Menschen mit unterschiedlichsten Wünschen, Hoffnungen, Zielen und Gedanken. Das heißt, wir werden in Zukunft zeitiger aufstehen müssen. Zeigen, dass wir unsere Bildung nicht als Schnäppchen gejagt haben. Dass unser Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Wir wirklich empathiefähig sind. Wie wir es gelernt haben. Eltern und Schüler, Lehrende und Lernende. Als vorbildliche Gast-Geber. Die zuerst einmal geben, dann verlangen. So herum ist es doch richtig? Oder haben wir Angst etwas zu verlieren, das wir nur einem Gutteil Glück zu verdanken haben, hier geboren zu sein?

Stille im „Stall“. Nein, natürlich nicht. Es murmelt. Die Gedanken und Wortfetzen fliegen. „Sind wir ja als Schule schon mal nicht schlecht“, triumphiert Anna. Wieso, frage ich. „Na, mit unserem Motto ‚Anders-denkend-humanistisch‘“. – „Ja, das ist unser Motto. Aber – klingt es nicht auch arrogant? Falsch gesagt und akzentuiert, spürt man keinen Unterschied zwischen didaktischem Zeige- und erhobenen Mittelfinger?“ Wir lächeln.

„Ich will euch zu Menschenfischern machen.“ Nun habe ich eine Tafelüberschrift. Aber wie komme ich jetzt zum „Herbsttag“ von Rilke „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los“?

Wir schaffen das. Jetzt. Und dann.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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