Sonntagmorgen. Ein freier Morgen wie jede Woche. Die Zeit neben dem Lehren und Lernen, die eigenen alphabetischen Gedanken dem Rest der Welt mitzuteilen. Wer wird sie überhaupt hören, der „Rest“? Meine Gedanken? In den Ohren klingen mir die Manic Street Preachers. „If you tolerate this then your children will be next“. 26 Grundbuchstaben hat es, das deutsche Alphabet. 26 Mal ein Thema, das sich mit Bildung auseinandersetzen soll. Inwendig. 26 Mal der kolumnistische Versuch, … Zögern … zu zeigen, was wir wissen, auch zu erkennen und darstellen zu können. Es täglich bei-zu-bringen. In der Schule, an die heranzutragen, die (es) noch nicht wissen (können?), was sie wirklich wollen. Ein Versuch. Kolumnistisch. Nicht kommunistisch.

„Sie sind ja ein Kommunist!“ brüllte mir letztens ein Schüler entgegen, als ich mich an „meinem“, am Friedrich-Schiller-Gymnasium, wieder einmal im appellativen Rauschzustand, den Dichtergiganten zitierend, befand. Dafür hielte ich mich noch nicht weit genug entwickelt, entgegnete ich nach einigem Zögern. „Und außerdem ist unsere Schule noch so weit entwickelt, dass darin ‚Kommunisten‘, offen agierend, den Ton angeben könnten. Überdies bin ich ziemlich ungeduldig in diesem, meinem einzigen Leben: Ein paar Humanisten mehr würden mir schon reichen.“ – „Was müsste denn anders sein?“ fragte Niklas und stützte seine Hände und den Blondschopf auf die Mate-Pulle.

Ihr, liegt mir auf der Zunge. Ihr, vor denen sich manchmal ein „Hampelmann“ wie ein Alpenkletterer vorkommen muss, Gefahr läuft, den Kontakt zum Basislager zu verlieren. Ihr, denke ich, die Ihr bisweilen so respektlos seid, so natürlich und unverschämt, dass es schwerfällt, dies auf ein abstraktes „System“ zu schieben. „Ich habe letztens 0 Punkte in Mathe bekommen, Herr Jopp. Das war doch Systemwiderstand, oder?“ Finstere Momente erlebt wohl jeder. Täglich. „Das darfst du nicht so ernst nehmen, Jens. Du weißt doch, es sind Kinder“, sagte mir eine gutaussehende junge Kollegin anschließend. Deshalb versuchte ich auch, danach daran zu glauben und meine Hoffnungen und Wünsche auf die Zukunft, d. h. die nächste Stunde zu verschieben.

„Bildung findet Persönlichkeit.“ Wie stolz war ich auf diesen letzten Satz der Schulphilosophie, die ich zusammen mit einigen Kolleginnen und natürlich nach leidenschaftlichem Schillerstudium entwickelte. „Nun braucht man das nur noch zu machen …“, dachte ich. Schief gedacht. Viele Menschen in einem Haus, viele Pläne, viele Ziele, einfach zu viel … „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf.“ (Schiller, 9. Ästhetischer Brief) „Ja, klasse, was soll das denn heißen?“, murmelt mir Claudius entgegen, der ‚Dyskalkuliewiderständler‘, soll ich jetzt mein eigener ‚Science-Fiction-Roman‘ sein?“ Das Blöde ist eben, dass Wahrheit so abstrakt ist, so nüchtern, wie trockenes Brot. Ohne Limettengeschmack und Milka-Kuhflecken. Und dazu klingt er noch irgendwie arrogant, der Satz: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8, 32) Da reicht kein Alphabet, da langen keine 26 Grundbuchstaben dafür hin.

Dabei bin ich ein Wachstumsbefürworter. Wachsen soll es, das Bedürfnis nach Demokratie, Freiheit und Toleranz. Es wird sich größer gewünscht, als es im kleinbürgerlichen Blumentopf – „zu Hause“ würden meine Schulkinder sagen – so vor sich hin wurzelt. Von den Medien verkündet, klugen Erziehungsratgebern und vielen Elternteilen – also auch von den Lehrern – die jeden Tag den Profi- oder mittlerweile auch Hobbyfloristen abgeben. (Das Kultusministerium in Sachsen pflanzt den Schulen schon seit längerem pädagogische „Quereinsteiger“ ein, die schwanken auch nach der Eingewöhnungsphase nicht überraschend, gestresst zwischen „Flower-Power“- und Unkrautvernichtungsmentalität. Hat allerdings den Vorteil, dass es den Stresspegel zwischen unerfahrenen Lehrern und Eltern kontinuierlich einander angleicht.)

Wachstum haben wir, nur wächst es komisch und an anderen Stellen, was wir dringend so an Nutzpflanzen in einem sozial verantwortungsbewussten Ökosystem brauchen. Vielleicht liegt es daran, dass wir zu viele Ziersträucher der Effizienz, des Konsums haben, zu viele „Kopfstauden“ von Berechnung und Kalkül? Wer weiß.

„Ja, Claudius, du sollst dein eigener Zukunftsroman sein. Schreib es gut, dieses Buch. Leite deine Kapitel richtig ein. Gib ihnen eine sinnvolle Überschrift.“ Alles hört sich an wie eine Weihnachtspredigt oder Rhetorik einer Ostermesse – „Dem Kurs und dem Stuhlkreis!“ Das fühle ich innerlich. Dabei bin ich immer von mir selbst und meiner Schulzeit ausgegangen. Da fand ich selber die Lehrer gut, die mich zum Denken aufforderten und mir zeigten, dass dies nicht umsonst ist. Auch wenn das Ergebnis zunächst mager und deprimierend blieb. Ich glaube, in jedem von uns steckt ein Stehaufmännchen – oder -weibchen – sich selbst und seine eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren und gleichzeitig wiederum nicht zu tolerieren.

„If you tolerate this ..:“ deswegen sagte und sage ich Claudius, Max, Ariane, Antonia und all den anderen „Geht euren Weg, geht den Weg von der Nachahmung über die Kreativität bis hin zum eigenen Genie. “ Den werden sie gehen, diesen Weg, auch wenn Ariane dabei ihr Nackenhaar zum Oberlippenbart formt, Max mit seinem Matekronenkorken die Fußball-EM eröffnet …

Bildung findet Persönlichkeit. Trotzdem. Gerade jetzt.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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