Nun rücken sie ganz nahe: zwei verdrängte Geburtstage und der 100. Katholikentag. Letzterer wird unter dem Motto „Seht, da ist der Mensch“ zehntausende Menschen vom 25.-29. Mai 2016 in Leipzig versammeln, um das in den Mittelpunkt zu rücken, was heute Nützlichkeitserwägungen, egomanischer Hartherzigkeit, sozialer Kälte und den fremdenfeindlichen Abwertungsstrategien der Neurechten zum Opfer fällt: der Mensch. Der Mensch, so wie er in Jesus Christus offenbar wird: der Mensch in seiner ganzen Armseligkeit und gleichzeitig der Mensch, der ein Stück von Gott ist. Der Mensch, der nicht aufgeteilt werden kann in schwarz, weiß, intelligent, dumm, arm, reich, gesund, behindert, erfolgreich, gescheitert. Der Mensch an sich: der Mensch als Geschöpf Gottes.

Ja, in der Bibel wird universal, interreligiös und uneingeschränkt vom Menschen, vom Adam und der Adamah, gesprochen – unabhängig von seiner Beschaffenheit, seiner religiösen Ausrichtung, seiner gesellschaftlichen Stellung. Der Mensch, der durch Gott mit Recht und Würde gesegnet ist – ob er Bernd, Susanne, Jane, Bob, Juliette, Maxime, Mehmet, Nesrin, Hassan, Kim oder Sören heißt, ob er getauft oder beschnitten ist, ob er glaubt oder sich in esoterischen Sphären verliert, ob Jude, Christ oder Moslem. Wenigstens wir Christen glauben daran, dass jeder Mensch ein Ebenbild, ein Stück von Gott ist – auch unser Feind. Diese Überzeugung wird hoffentlich durch den Katholikentag kräftig unterstrichen. Deswegen ist es absolut konsequent und begrüßenswert, dass der Katholikentag eine deutliche Distanz hält zu den politischen Gruppierungen wie der AfD, die derzeit versuchen, Europa mit dem nationalistischen Virus zu infizieren und mit gezielter Ausgrenzung von Menschengruppen „rein“ zu halten. Man kann nur hoffen, dass diese Deutlichkeit weit über den Katholikentag hinaus wirkt und auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlt. Diese erfreuliche Deutlichkeit lassen alle konfessionellen Unterschiede zweit- und drittrangig werden.

Aber wir freuen uns nicht nur auf den Katholikentag. Zuvor, am 23. Mai 2016, wird in Leipzig endlich ein doppelter Geburtstag aus dem Dornröschenschlaf geweckt: der 23. Mai.

Vor 163 Jahren wurde 1863 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle die Partei auf den Weg gebracht, die in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten wie keine andere auf den Menschen gesehen, ihn in seiner Not ernst genommen und zu seinem Recht verholfen hat: die SPD. Auch wenn sie sich derzeit in einer tiefen Krise befindet: ohne die Sozialdemokratie, ohne ihr klares Engagement für den sozialen und demokratischen Rechtsstaat könnten wir nicht auf das zweite Ereignis blicken, das mit dem 23. Mai verbunden ist.

Vor 67 Jahren wurde am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verabschiedet, die Verfassung des neuen Deutschlands. In dieser wurden die demokratischen Grundwerte aufgenommen, für die viele Sozialdemokrat/innen gestritten und ihr Leben gelassen haben: der demokratische Rechtsstaat, die Menschenwürde, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Meinungs- und Religionsfreiheit, freie und geheime Wahlen, die Abschaffung der Todesstrafe und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Auch wenn Sozialdemokraten 1949 noch eine deutliche, durchaus verständliche Distanz zur Kirche einnahmen – sie haben sich auch für die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften am öffentlichen Leben eingesetzt und sich dem Gottesbezug in der Verfassung nicht widersetzt. Dieser hat die eine wichtige Funktion: das Wirken von uns Menschen vor einer hybriden Selbstbeweihräucherung zu bewahren und an die gewachsenen Werte von sozialer Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Ehrfurcht vor dem Leben, Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu erinnern. Darum schadet das „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ keinem: keinem Bürger, keiner Bürgerin, keinem Politiker, keiner Politikerin – auch wenn sie keinen religiösen Bezug zu Gott haben.

Dieser Bezug rückt das in den Vordergrund, was der Katholikentag als den Auftrag für uns alle ins Bewusstsein ruft: Seht, da ist der Mensch. Nicht „die blonde deutsche Frau“, nicht der „patriotische Europäer“, nicht der selbsternannte Retter des christlichen Abendlandes – nein: der Mensch, das Geschöpf Gottes. Gustav Heinemann, SPD-Politiker und Bundespräsident von 1969-1974 sagte einmal: „Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum ersten Mal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat der Würde des Menschen Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offner Diskussion zu klären gilt.“ Für diese Würde, für die Vielfalt der Lebensentwürfe, für die Gleichberechtigung lohnt jeder Streit. Für diesen Streit brauchen wir jede und jeden, für den/die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und Menschenwürde sich immer neu bewähren muss. Vor allem aber sollten wir uns freuen an einer und sorgen für eine wache, selbstbewusste Sozialdemokratie – nicht zuletzt als Christen. Denn wir wollen die Ver-Fassung nicht verlieren!

Der 23. Mai 2016

17:00 Uhr Friedensgebet in der Nikolaikirche, gestaltet vom Arbeitskreis „Christen in der SPD“ mit Ensemble „Thios Omilos“ und Pfarrer i.R. Christian Wolff

18:00 Uhr  Für Grundwerte streiten, Open-air-Geburtstagsfeier auf dem Nikolaikirchhof: 163 Jahre SPD – 67 Jahre Grundgesetz mit Oberbürgermeister Burkhard Jung, Generalsekretärin der SPD Katatrina Barley, Dirk Panter (Fraktionsvorsitzender der SPD im sächsischen Landtag, Dirk Wottgen (Personalleiter BMW Werk Leipzig) und Musiker Sebastian Krumbiegel

Drei Veranstaltungen während des 100. Katholikentages

26. Mai 2016, 16:00 Uhr, Haus „Arbeit und Leben Sachsen“, Löhrstraße 19, 04105 Leipzig

Religion – Privatangelegenheit oder öffentlicher Auftrag
Podiumsdiskussion mit Rabbiner Zsolt Balla (Leipzig), Bischof i.R. Prof. Dr. Wolfgang Huber (Berlin), Prof. Dr. Omar Kamil (Erlangen), Prof. Dr. Christine Langenfeld (Göttingen/Leipzig) – Moderation: Alexandra Gerlach

27. Mai 2016, 18:00 Uhr, Haus „Arbeit und Leben Sachsen“, Löhrstraße 19, 04105 Leipzig
Interreligiöse Feier: Seht, da ist der Mensch – verschieden glauben, gemeinsam vor Gott mit Pfarrer i.R. Christian Wolff und Muhsin Emiroglu (Moderation), Chor der Schmidtschulen Jerusalem

28. Mai 2016, 19:00-21:30 Uhr, Evangelisch Reformierte Kirche, Tröndlinring 7, 04105 Leipzig
Theateraufführung mit Diskussion „Sachsen – rechts unten“
Asylmonologe: Bühne für Menschenrechte e.V., Berlin
Diskussion mit: Dr. Petra Schickert, Kulturbüro Sachsen, Susanne Löhne, Initiativkreis Menschenwürdig, Leipzig; Neamat Kanaan, AG Asylsuchende Sächsische Schweiz-Osterzgebirge – Moderation: Pfarrer i.R. Christian Wolff

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