Es soll ja Leute geben, die bleiben im Urlaub lieber weise lächelnd zuhause. „Wozu in die Ferne schweifen …?“, sagen sie dann und tun so, als sei die bewährte Antwort in Stein gemeißelt. Ist sie nicht: Erstens ist in der Nähe nicht gut schweifen, zweitens liegt dem nahen Mitmenschen das Gute auch manchmal fern und drittens kann man seine ureigene Belastbarkeit auch einmal jenseits der Erwerbstätigkeit nach Herzenslust überprüfen.

Jeder Urlaub – und sei er noch so pervers pauschal durchorganisiert – bleibt schließlich vor allem eines: ein Wagnis. Ein kleiner Klick im Netz, ein riesiger Schritt in die Unwägbarkeit. Ich weiß das. Ich bin nämlich gerade weg von zuhause. En vacances.

Alles begann schon hervorragend: Der Flug verspätete sich. Man sitzt dann ja gern zurückgeworfen auf sich selbst in diesem Niemandsland eines Flughafen-Boarding-Rooms herum, hat die Leipziger Volkszeitung, die Süddeutsche, die Super-Illu, Partner Pferd und die Jüdische Allgemeine schon einmal vor- und einmal rückwärts gelesen, weiß jetzt alles über die Eheanbahnungsversuche Bastian Schweinsteigers, aber nicht mit Alice Schwarzer, weil die jetzt vorbestraft sein soll und Ben Stillers neuesten Film, obwohl man den fast noch weniger gut aushält als Alice.

Das Kind hat unterdessen zwei neue Freunde fürs Leben gefunden, mit denen es Hand in Hand durch die Halle rennt und neben dem unglaublich elegant gekleideten Dunkelhäutigen mit den genau richtig langen Strümpfen in der Reihe gegenüber sitzt der schneidige Laptop-Typ, der in dieses entschlossen all das hineinhackt, was unter seiner Gel-Tolle so lagert. Vielleicht legt er aber auch nur eine Patience. Irgendwann klappt es auch mit dem Ins-Flugzeug-Gelangen. Der Kapitän begrüßt die Passagiere. Er wirkt gottlob nicht psychotisch, aber slightly zerknirscht. Das mag daran liegen, dass er verkünden muss, dass man weitere anderthalb Stunden warten müsse, erst dann dürfe er starten. Der in den üppigen Sitzen festgezurrten Passagierschaft entfährt ein empörtes Murren, große Teile davon aber werden umgehend mit Unterhaltungselektronik und einem Film mit Ben Stiller ruhiggestellt. Alles geht gut.

Viele Stunden später wirft uns ein dicklicher Taxifahrer bei beeindruckender Dunkelheit an einem etwas schäbig wirkenden Hotel raus und fährt davon in die Nacht. Es ist nebensächlich für 99,9 % der Menschheit, dass es sich hierbei weder um den gebuchten Unterschlupf noch um den richtigen Ort handelte. Für uns aber nicht ganz.

Aber wenn man dann endlich am pittoresken Orte angelangt ist, ein feines Dach überm Kopf und absolute Ruhe um sich herum bis auf das Plätschern eines Privat-Pools in der Ferne und weiß, morgen scheint ganz sicher die Sonne aufs Meer, dann ist Kleinlichkeit eine Vokabel für die, die an dieser Erbkrankheit leiden.

Am nächsten Tag stellt sich das mit der himmlischen Ruhe zwar als Seite im beliebten Katalog des Wunschdenkens heraus, denn es gibt ihn ja noch – den Mitmenschen, den anderen Hotelgast. Der ist in diesem Jahr bevorzugt russischer, polnischer und belgischer Landescouleur und interpretiert „landestypisch“ nicht unbedingt zu Gunsten seines Urlaubslandes.

Es tritt zutage: Die ehemaligen fleißigen Werktätigen der Volksrepublik Polen und der UdSSR, die sich früher laut Russisch- oder Geographiebuch in ihrer Freizeit vorwiegend mit „sanimatsa sportom“, dem Einsatz für den Frieden oder im Zirkel schreibender Arbeiter beschäftigt haben, sind in den letzten 25 Jahren den Verlockungen der Marktwirtschaft wenig abhold gewesen. Körper, die unbestreitbar allerlei in sich hineinzuleiten wissen, eifern dem stattlichen Weltwunder – dem Koloss von Rhodos – nach, nur notdürftig in neonpink, grün oder orange und Glitzer verhüllt. Frauen vergessen nicht selten das gesamte Beinkleid, die Männer leiden oft an einer besonders schlimmen Ausprägung von Textilnostalgie. Soeben passiert ein Herr in einem Hawaii-Hemd und Bermuda-Shorts, die die Insel kartographisch nachempfinden, meinen Sitzplatz.

Der starke Arm, der in der Vergangenheit den Stahl zu härten wusste, liegt mittlerweile bevorzugt im Restaurant samt Ellenbogen auf dem Tisch, zeigt dafür aber prächtige Gemälde vor. Ich finde das aber auch irgendwie beruhigend: Der überall auf der Welt beliebte deutsche Tourist ist längst nicht mehr allein auf dem Siegertreppchen der gelungensten Freizeitverkleidung. Außerdem kann man ja auch weggucken. Zum Beispiel aufs Meer.

Überhaupt das Meer. Das ist doch hinreichender Grund für alles! Leipzig hat nun mal keines – trotz Seaside Hotel gegenüber dem Hauptbahnhof. Und auch die nähere Ostsee ist kein richtiger Trost, wird deren Schönheit doch zu oft durch garstige Wetterlagen überschattet. Man hat doch schließlich den düsteren Winter lang Verlangen nach von der Sonne beschienenen, verspielten kleinen Wellen, deren weiße Schaumkrone sich wohlgefällig vom Blau des Himmels abhebt, welches sich wochenlang nicht von einer einzigen Wolke den Azur-Teint verderben lässt. Meer und mehr mildes Klima. So schlicht können Träume von gelingendem Leben sein. Nicht umsonst erzählt man Kindern ja seit langem diese hübsche Geschichte mit der Muschel, die man ans Ohr halten muss, um das Rauschen des Meeres zu hören. Die Muschel als eine Art Sehnsuchts-Pflaster.

Wenn man als Erwachsener am Meer ist, hat man perfiderweise Sehnsucht nach einem, der einem mit solchen Muschel-Legenden tröstet. Weil man merkt, dass das Meer nicht das Ziel aller Sehnsuchtsgeschichten ist, sondern deren Ursprung.

Und trotz aller Tragik, die gerade heute diesen millionenfach in die Tat umgesetzten Sehnsüchten auch anhaftet, ist es doch legitim sagen zu dürfen, dass man sich am Meer wohl fühlt. So wohl, dass man, wenn dereinst der arge Schnitter sich anschickt anzuklopfen, einbalsamiert in Olivenöl nahe eines schattigen Bänkchens nahe des Mittelmeers begraben sein wollte. Am liebsten jedoch erst, wenn die Welt ein Ort geworden ist, in der ein jeder – ohne Dünkel oder größere Hindernisse – selbst entscheiden darf, wie nah ihm das Gute, sein Gutes ist. Oder ob er gegebenenfalls dahin aufzubrechen wünscht.

Die Welt als Ort des Schweifens und Schweifenlassens. Bon Voyage.

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