Die Akzeptanz einer gesellschaftlichen Unterschicht ist inhuman und zynisch, daher müssen wir diesem Prozess entgegenwirken und Chancengleichheit herstellen. Deutschland, ein Wohlfahrtsstaat mit Sozialleistungssystem und Schulpflicht. Wie kann es dann eine neue Unterschicht geben und durch was zeichnet sie sich aus?

Betrachtet man die Unterschicht aus dem Blickwinkel der Mitte der Gesellschaft, so beschreibt sie eine soziale Schicht, mit der man sich nicht gleichstellen will. Es sind aus diesem Blickwinkel meist jene, die schon durch ihr Auftreten und ihr Handeln bzw. Nichthandeln erkennbar scheinen. Sie sind unmotiviert und bildungsfern und zumeist haben sie einen ungesunden Lebensstil.

„Unterschichten-TV“- dieser Begriff umreißt hierbei schon ein recht klares Bild von unmotivierten Langzeitarbeitslosen, überforderten und zur Erziehung unfähigen Alleinerziehenden und Großfamilien, integrationsunwilligen kriminellen Ausländern, suchtmittelabhängigen und ziellosen Jugendlichen usw., um nur einige dieser vorgefertigten Klischees zu nennen. Eins ist in diesen Zuschreibungen aber meist mit enthalten: „Die sind doch am Ende selbst schuld!“.

Ist das so? Passen diese Zuschreibungen, und sind „die“ nicht selbst schuld? Richtig ist, dass die neue Unterschicht so verschieden ist wie der Rest der Gesellschaft. Allerdings lassen sich Personengruppen ausmachen, die betroffen oder gefährdet sind von finanzieller und kultureller Armut, die Teilhabe nur im geringen Ausmaß oder gar nicht erleben. Ihre Selbstverwirklichungschancen sind eher gering und ihre Hoffnung auf sozialen Aufstieg ist gehemmt oder aber sie haben gar gänzlich resigniert.

Diese Personengruppen lassen sich z.B. aus dem Armutsbericht 2017 entnehmen. Gefährdet sind vor allem Arbeitslose, Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Alleinerziehende, Migranten und m.E. auch psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderung; vor allem aber deren Kinder (vgl. Paritätische Gesamtverband, 2017). Deutschland zählt zu den Ländern mit durchschnittlicher Einkommensungleichheit und geringer sozialer Mobilität. Demnach würde es beim derzeitigem Niveau von Ungleichheit und sozialer Mobilität bis zu sechs Generationen dauern, bis die Nachkommen einer Familie vom unteren Ende der Einkommensgrenze die durchschnittliche Einkommensgrenze erreichen können (vgl. Neues Deutschland, 2018).

Daraus lässt sich ableiten, dass die soziale Herkunft immer noch mitbestimmend ist über den eigenen sozialen Werdegang und die eigene soziale Mobilität. Ein Indiz, dass die Zugehörigkeit zur Unterschicht keineswegs selbstgewähltes Leid oder Eigenverschulden in Gänze darstellen kann. Im Gegenteil, sie ist eher Beweis dafür, dass Chancengleichheit in Deutschland maximal ein theoretisches Konstrukt sein kann. Ein Phänomen, welches uns in unserer täglichen Arbeit immer wieder begegnet.

Da ist der Schüler, der seine Hausaufgaben zu Hause nicht erledigen kann, weil eine Internetrecherche gefordert ist und es zu Hause kein Internet gibt, die Schule aber am Nachmittag keine Möglichkeit bietet, einen Computer zu nutzen. Oder die junge Frau mit Kopftuch, welche trotz eines super Zeugnisses vergeblich um einen Ausbildungsplatz kämpft. Aber auch der Hauptschüler, der sich in Eigenregie das Programmieren beigebracht hat, aber nie die Chance erhalten wird seinen Wunschberuf zu erlernen, weil ein Realschulabschluss Voraussetzung ist. Oder die junge Mutti, die ihr Abitur abbrechen muss weil die familiäre Kinderbetreuung nicht gewährleistet werden kann und es zeitnah keinen Kita-Platz geben wird.

Die Beispiele könnten jetzt noch um einige ergänzt werden. Bei vielen dieser Probleme werden wir natürlich tätig, um Schlimmeres zu verhindern. Wir vermitteln zwischen den Systemen, damit die junge Mutti nicht das Handtuch werfen muss oder setzen den Schüler bei uns an den Rechner, damit er seine Hausaufgabe erledigen kann. Verdammt, sind wir gut! Aber ist DAS tatsächlich unsere Aufgabe? Kann und sollte soziale Arbeit nicht mehr können als die bestehenden Systeme zu bedienen und Schadensbegrenzung zu betreiben?! Und befördert soziale Arbeit an bestimmten Stellen nicht sogar genau diese Systeme? Soziale Arbeit sollte sich zumindest kritisch mit dem eigenen Verständnis auseinandersetzen und die strukturellen, gesellschaftlichen Zusammenhänge hinterfragen und offenlegen.

Quellenangaben:

Paritätischer Gesamtverband (2017): „Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017“, URL https://www.armutskongress.de/fileadmin/files/Dokumente/AK_Dokumente/armutsbericht-2017.pdf, zuletzt aufgerufen am 16.05.2019 um 22:45 Uhr

Simon Poelchau (2018): „Die Klassen sind undurchlässig. OECD bescheinigt Kindern armer Familien geringe Aufstiegschancen“, Neues Deutschland, URL https://www.neues-deutschland.de/artikel/1091337.soziale-ungleichheit-die-klassen-sind-undurchlaessig.html, zuletzt aufgerufen am 16.05.2019 um 22:51 Uhr

Infos zur Thesen-Aktion: Anlässlich seines 25-jährigen Bestehens hat der Mobile Jugendarbeit Leipzig e.V. einen Kalender mit 25 Thesen aus der Praxis zusammengestellt. Diese beziehen sich auf aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen in Gesellschaft und Jugendarbeit, auf die die Streetworker des Vereins in ihrer täglichen Arbeit stoßen. Die Thesen sollen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen – und im Idealfall den Anstoß für einen Veränderungsprozess geben.

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