Sie sind schuld. Ja, Sie! Und Sie! Und der da drüben an der Theke vom Bäcker ist auch schuld. Ich? Ich bin auch schuld. Wir sind alle an allem schuld. Woran? Daran, dass der Planet gerade zum Backofen wird, zum Beispiel, oder daran, dass Disney immer noch Scheiß-Filme macht, die Kindern weiterhin suggerieren, dass Prinzessinnen ein geiles Leben hätten. (Lady Di würde das so nicht unterschreiben, fürchte ich.)

Sie finden keinen angemessenen Job, obwohl in jeder Newssendung der Fachkräftemangel thematisiert wird? Sie sind einfach nicht flexibel genug für den Arbeitsmarkt und sollten sich gefälligst nicht so haben! Statt in einem warmen Büro sitzen zu wollen, könnten Sie auch Mülltonnen umherschieben oder Busfahren. Die Welt ist so verdreckt, dass sogar niedliche Seepferdchen und lustige Eichhörnchen eigentlich in den Sondermüll gehören? Ihre Schuld und meine! Denn wir kaufen und verwenden Produkte, die so voll von giftigen Chemikalien sind, dass die Natur davon auf Jahrtausende hinaus verseucht wird.Sie haben Ihre Bikini-Figur seit zehn Jahren nicht mehr halten können? Eindeutig Ihre Schuld! Sie hätten ja mehr Sport treiben oder sich in einem Yogakurs anmelden können. Davon gibt’s schließlich hunderte Angebote in der Stadt. Dass Sie, wegen der Kinder und des stressigen Jobs, den Sie machen müssen, um die Pamperswindeln, die Schokokekse, den Sprit fürs Auto und die Miete zahlen zu können, keine Zeit für den Yogakurs hätten, gilt als Ausrede nicht.

Schauen Sie sich doch all die Instagram-Mums an! Die kriegen das auch hin und haben sogar nach Weihnachten eine Bikini-Figur, die sie in jedem Datingportal zu Superstars qualifiziert. Aber Sie?! Sie geben sich einfach nicht genug Mühe! Es gibt Apps, die Ihnen beim Zeitmanagement helfen. Laden Sie sich so ein Teil gefälligst herunter und fangen Sie endlich an, Ihr Leben zu ändern!

Überhaupt! Wie können Sie immer noch mit einem spritfressenden Blechkasten umherfahren, wenn doch der Planet brennt und wir alle wissen, dass die Verwendung fossiler Brennstoffe die Zukunft unserer Kinder versaut. Gehen Sie los und kaufen Sie sich ein Lastenrad oder – falls es dazu nicht reicht – wenigstens eine Monatskarte der LVB! Ah! Sie wohnen bisschen außerhalb und die Busfahrpläne sind nicht mit Ihren Arbeitszeiten zu vereinbaren? Stehen Sie gefälligst eher auf und passen Ihre Arbeitszeit dem Fahrplan an! So schwer kann das nicht sein!

Und dass Ihr neuestes Projekt doch keinen Anklang beim Kunden gefunden hat, ist selbstverständlich auch Ihre Schuld! Hätten Sie sich doch mal weitergebildet und bei den neuesten Trends in Ihrem Job auf dem Laufenden gehalten. So viel an Engagement und Eigeninitiative wird man ja wohl von Ihnen verlangen dürfen. Das hier ist Kapitalismus, da belebt Konkurrenz das Geschäft! Also sorgen Sie dafür, dass Sie zur Konkurrenz Ihrer Wettbewerber werden!

Dieses ewige Geheule in den Sozialen Medien muss auch mal aufhören! Man hat ja fast den Eindruck, dass in diesem Land kein Mensch mehr irgendeiner produktiven Tätigkeit nachgeht, weil jeder den ganzen Tag damit beschäftigt ist, sich TikTok-Clips anzuschauen oder mit Fremden auf Facebook und Twitter herumzustreiten. Ludwig Erhard, Vater des Wirtschaftswunders mit Kapitalzigarre und Säulenheiliger der angeblich sozialen Marktwirtschaft, hätte diesen amerikanischen Social-Media-Hippiemist in der Bundesrepublik gar nicht erst einreißen lassen!

Also steigern Sie tunlichst das Bruttosozialprodukt, statt sich mit Facebookuserin Ilse Krause (Profilbild lächelnde Cheshire Cat in Schwarzrotgoldenem Rahmen) ewig über das angeblich einzig richtige Rezept für Brathendl im Sauerteigmantel herumzustreiten!

Die Leipziger Zeitung, Ausgabe 96. Seit 29. Oktober 2021 im Handel. Foto: LZ

Gegen Ende der siebziger Jahre fürchtete die amerikanische Kunststoffindustrie, dass ihr ein Imagedesaster drohte, weil sich die Medien lauter darüber beklagten, wie vermüllt Amerika sei. Dass Medienleute und allseits bekannte Gutmenschen Umweltschutz zum Trendthema machten, wäre den Herrn Chairmen ja herzlich egal gewesen.

Aber im Weißen Haus saß seinerzeit ein Mann namens Jimmy Carter, der einen politischen Betriebsunfall darstellte, weil er für einen US-Präsidenten charakterlich gefährlich nah an einem Gutmenschen gebaut war und daher das Müllproblem nicht genauso zuverlässig ignorierte, wie seine Vorgänger.

Also wurden die Chairmen kreativ, engagierten eine hippe PR-Firma, die ihnen eine Imagekampagne erstellte. Die Werber produzierten dafür einen Clip, der auf sämtlichen TV-Kanälen und in den Kinos lief.

In dem Film streift ein stolzer Krieger und Jäger mit Federschmuck und Wildlederhosen durch sein Jagdrevier und erfreut sich an der malerisch unberührten Wildnis, bis er auf einen Highway stößt, dessen Straßenrand von Verpackungsmüll übersät ist. Ganz besonders angewidert ist der Krieger von einem kleinen Jungen, der seine Burgerverpackung aus einem vorbeifahrenden Auto wirft. Die Message ist klar: Wir alle sind dafür verantwortlich, unsere Umwelt sauber zu halten.

Der Imagefilm war legendär erfolgreich. Er veränderte die Schuldperspektive. Seither waren nicht mehr die Companymen, die sich dumm und dämlich daran verdienten, neue Wege zu ersinnen die Welt mit überflüssigem Kunststoff zu überziehen, schuld an den Müllbergen, die überall die Landschaft verschandelten. Sondern die Verbraucher, weil die sich einfach nicht genug Mühe gaben, ihren Abfall angemessen zu entsorgen.

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Facebook baut Algorithmen, die Sie psychologisch abhängig machen vom nächsten Emotionsschuss, Instagram-Mums benutzen Photoshop, um ihre Schwangerschaftsbäuchlein wegzuretuschieren und der Planet verbrennt nicht nur deswegen, weil Sie und ich unseren Müll nie penibel genug getrennt haben oder zu wenig Bus gefahren sind. Es ist auch nur sehr begrenzt Ihre Schuld, dass Sie, seit sie zwei Kinder bekamen, im Hamsterrad der ewigen Selbstoptimierung nicht mehr gar so mühelos mithalten können, wie vor der Geburt der Racker, die eben zum zweiten Mal heute das Kinderzimmer zerlegen.

Was den Planeten betrifft, so wussten die Ölfirmen spätestens seit Mitte der Siebziger Jahre von den Auswirkungen fossiler Brennstoffe auf das Weltklima und ob wir unseren Müll in gelbe, blaue oder schwarze Tonnen einsortieren wird an der Gesundheit der Natur nur marginal etwas ändern. Das Problem sind nicht Sie oder ich. Das Problem ist eine Wirtschaft und sind Politiker, die es seit Jahrzehnten gewohnt sind, den Schwarzen Peter an uns Verbraucher und Wähler weiterzuschieben. Lassen Sie sich also keine Schuldgefühle einreden. Aber lassen Sie sich auch nichts gefallen.

Glaub keinem, der dir sagt, dass du nichts verändern kannst. Die, die das behaupten, haben nur vor Veränderung Angst. Es sind dieselben, die erklären, es sei gut so, wie es ist. Und wenn du etwas ändern willst, dann bist du automatisch Terrorist“, sangen die Gebrauchsethiker von Die Ärzte einst.

An ihrer Analyse hat sich nichts geändert.

„Haltungsnote: Terroristenhendl im Schuldgefühlspeckmantel“ erschien erstmals am 29. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 96 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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