Der von Putin orchestrierte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde propagandistisch von einem revisionistisch-imperialen Geschichtsbild vorbereitet und begleitet, welches der Ukraine das Recht auf jegliche Souveränität und territoriale Integrität abspricht. Dazu ein aggressives Feindbild-Narrativ, das der Ukraine eine auszumerzende, „faschistische“ Führungsclique unterstellt und den Angriff damit mit der identitätsstiftenden Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg verkoppelt.

Im Folgenden sei der Blick darauf gerichtet, dass dieser Rechtfertigungsdiskurs eine unheilvolle Tradition wiederbelebt, die mal ein Land wie Polen von der Landkarte fegte und gerade da immer noch schlimmste
Erinnerungen wachruft.

Auf paradoxe Weise verbanden sich Ende der 1930er Jahre ausgerechnet der Führer des faschistischen Deutschlands und der in Moskau ansässige oberste Führer (Stalin) der (bis 1939 antifaschistischen) Kommunistischen Internationale in dem Willen, dem gemeinsamen polnischen Nachbarn das Recht auf jegliche Souveränität und territoriale Integrität abzusprechen, was beide dann auch nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 24. August 1939 mit dem geheimen Zusatzprotokoll zur Festlegung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa in die Wege leiteten.

Die eine Seite marschierte dann vom Westen her am 1. September in Polen ein, die andere Seite, am 17. September, vom Osten. Mit einem Freundschafts- und Grenzvertrag bestätigten sich beide am 28. September ihre Beute. Die heuchlerische Rechtfertigung seitens Hitlers für den Angriff gegen Polen – „wir schießen nur zurück“ – ist bekannt. Im Kalender wird seitdem der Beginn des Zweiten Weltkriegs auf dieses Datum vom 1. September gesetzt.

Die Molotow-Rede von Oktober 1939

Dass die alte Sowjetunion bzw. das spätere Russland Probleme damit hatten, ihren „Großen Vaterländischen Krieg“ in diese Kriegschronologie einzubringen, wozu noch der sowjetische Angriff auf Finnland am 30. November zu zählen wäre, dürfte um so besser nachvollziehbar sein, wenn man sich die – der späteren Nachwelt natürlich vorenthaltene – Rede des damaligen Außenministers der UdSSR, W. M. Molotow, vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939 zu Gemüte führt. Das in dieser Rede entwickelte Narrativ, um die Zerstörung und Aufteilung Polens zu rechtfertigen, ist von beklemmender Aktualität, wenn man sie auf die gegenwärtige Situation der Ukraine überträgt.

Die Rede selbst, in der Molotow sich unter anderem darüber mokiert, wie „die regierenden Kreise Englands und Frankreichs (sich bemühen), sich als Kämpfer für die demokratischen Rechte der Völker gegen den Hitlerismus auszugeben“, ist von beträchtlicher Länge und verdiente einen völligen Abdruck, was hier nicht möglich ist. Doch lassen wir im Folgenden einfach einige Sätze, die Polen betreffen, für sich selber sprechen.

„Genossen Deputierte! In den beiden letzten Monaten sind in der internationalen Situation wichtige Änderungen eingetreten. (…) Erstens muss auf die Änderungen hingewiesen werden, die in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland eingetreten sind. Seit dem Abschluss des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakts vom 23. August wurde den nicht normalen Beziehungen, die während einer Reihe von Jahren zwischen der Sowjetunion und Deutschland bestanden hatten, ein Ende gesetzt. An die Stelle der Feindschaft, die von Seiten einiger europäischer Mächte in jeder Weise geschürt wurde, ist eine Annäherung, ist die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland getreten.

Die weitere Verbesserung dieser neuen guten Beziehungen fand ihren Ausdruck in dem deutsch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft und über die Grenze zwischen der UdSSR und Deutschland, der am 28. September in Moskau unterzeichnet worden ist. (…) Hierbei bestätigten die Ereignisse in vollem Umfang jene Einschätzung der politischen Bedeutung der sowjetisch-deutschen Annäherung, die auf der vorigen Tagung des Obersten Sowjets gegeben wurde. Zweitens muss auf die Tatsache verwiesen werden, dass Polen militärisch zertrümmert worden, dass der polnische Staat zerfallen ist. Die regierenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der ‚Stabilität‘ ihres Staats und der ‚Macht‘ ihrer Armee.

Es genügte jedoch ein kurzer Schlag gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler Vertrags, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten lebte, nichts übrigblieb. Die ‚traditionelle Politik‘, prinzipienlos zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu lavieren und zu spielen, erwies sich als haltlos und erlitt einen vollständigen Bankrott. (…) Der Krieg zwischen Deutschland und Polen wurde infolge des vollständigen Bankrotts der polnischen Machthaber rasch beendet. Bekanntlich haben weder die englischen noch die französischen Garantien Polen geholfen. Bisher ist es ja eigentlich auch unbekannt, was für ‚Garantien‘ das denn nun waren. [Protokoll vermerkt allgemeine Heiterkeit].“

Ursprungsquelle: W. M. Molotow: Über die Außenpolitik der Sowjetunion. Bericht des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare der UdSSR und Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten auf der außerordentlichen fünften Tagung des Obersten Sowjets am 31.10.1939. In: Internationale Literatur – Deutsche Blätter, Moskau, 12. Heft, 9. Jg., 1939, S. 128-132. Rechtschreibung angepasst.

Die Zusammenarbeit zweier Diktaturen

Die Gräueltaten, mit der die deutschen Truppen ihren Teil Polens überzogen, haben sich auch in unser Gedächtnis eingebrannt und die Erinnerung daran ist Teil unserer Versöhnungspolitik mit dem heutigen Polen. Um dem Vorwurf einer billigen Aufrechnung zu entgehen, sei auf entsprechende polnische Quellen verwiesen, die an das erinnern, was sich nach dem 17. September im sowjetisch besetzten Teil des damaligen Polens abspielte.

Nur soviel: „Beide Teilungsmächte stimmten ihre ‚Polenpolitik‘ eng miteinander ab. Im März 1940 – ein bezeichnendes Datum – fand in Zakopane die erste Konferenz von Gestapo und NKWD zur gemeinsamen Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung statt.“

Adam Krzemiński, Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Ein historischer Essay, München 1993, S. 91.

Diese „Zusammenarbeit“ fand erst dann ein jähes Ende, als am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der Freund plötzlich wieder zum Feind wurde. Wenn nun wieder am 9. Mai in Moskau der Sieg über den Faschismus gefeiert wird – und damit auch ein Sieg über die „faschistische“ Ukraine eingefordert wird, dann wäre es nicht abwegig, gerade in diesen Wochen an den etwas komplexen Beginn des Zweiten Weltkriegs zu erinnern.

Wie sagte Molotow noch 1939: „Daher ist es nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg für die ‚Vernichtung des Hitlerismus‘ zu führen, einen Krieg, der drapiert wird mit der falschen Flagge eines Kampfes für die ‚Demokratie‘.“ In Polen und in der Ukraine hat man dies nicht vergessen. In Finnland sicher auch nicht.

Übrigens: Als am 15. März 1939 deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in Prag einmarschierten, berief sich laut Akten zur deutschen auswärtigen Politik die deutsche Regierung auf die mangelnde öffentliche Ordnung in der Tschechoslowakei.

Dresden, Mai 2022

Den oben stehenden Text hat Ingo Kolboom schon im Mai 2022 einer Zeitung zur Veröffentlichung angeboten. Die damals ablehnte – wohl aus Platzgründen. Aber was der Historiker damals schrieb, ist noch immer gültig. Die Rede Putins am 21. Februar war ihm Anlass, den Kommentar wieder auszupacken.

Der Autor: Der Historiker und Romanist Ingo Kolboom lehrte von 1994 bis 2012 an der TU Dresden, war zeitgleich Assoziierter Professor am Historischen Seminar der Université de Montréal (Kanada), davor arbeitete er als Senior Research Fellow in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Bonn.

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Es gibt 6 Kommentare

Ich bin da voll bei gerd stefan, nichts rechtfertigt den Tod von Menschen auf beiden Seiten. Aber wie komplex die internationale Politik ist, sieht man sehr schön auch daran, das die Ukraine an den völkerrechtswidrigen Angriff der USA im Frühjahr 2003 auf den Irak mitgemacht hat und stellte 1650 Soldaten.
Quelle: Liste der Mitglieder der Koalition (Stand: 27. März 2003, Quelle: White House)

Russland und die russischstämmige Bevölkerung im Osten der Ukraine hatte schon Motive ein Problem mit der Osterweiterung der Nato und der westlich dominierten politischen Isolation Russlands zu haben, welche natürlich dem Duktus von 1990 zuwiderläuft. Was man Russland und der Putinpolitik direkt vorhalten muss ist, dass hier nicht alle zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Druckmittel auf die Ukraine und den Westen, wie eine abgestuftes Öl-, Gas-und Rohstoffembargo, genutzt wurden um dem entgegen zu wirken. Ein Krieg mit all seinen katastrophalen Wirkungen auf Land und Leute ist durch nichts zu begründen. Es ist auch völlig unverständlich was denn Russland mit einem völlig zerstörten Land eigentlich anfangen will. Das war auch der Überraschungseffekt für den Westen, der natürlich die Gefahr eines direkten Überfalls noch nicht erkennen konnte, da Russland noch nicht alle Möglichkeiten der Einflussnahme ausgereizt hatte.

Michael, der Artikel behandelt einen Sachverhalt aus der Geschichte der Sowjetunion. Ich habe mit Bedacht formuliert. “ein Land nach dem anderen …” – das passt wohl eher auf den “großen Satan”, um in meiner Vatersprache zu benennen. Ansonsten bemühst du dich, zeitgeistgetränkt, mich nach Kräften misszuverstehen. Hearst hat mich verstanden und argumentiert komplex. Danke, Hearst.
Michael, noch einmal, das Rennen um den “wahren” Standpunkt als Diktion gewinnen immer die (extremen) Rechten. Darunter leiden werden du und ich. Ich muss mir aber nicht vorwerfen, diese gesellschaftliche Verwerfung befördert zu haben. Scheuklappen und Tunnelblick sind keine gute Kombination. Es war mal so erfrischend anders, euch zu lesen. Vorbei!

Bei der Konstruktion der Linie Hitler-Stalin-Putin entgeht womöglich daß es Ereignisse vor dem 24. Februar 2022 gab die die Entwicklungen besser erklären. Die Ziele und Taten der US Adm. sowie der NATO bis zur EU bleiben dabei zumeist unerwähnt. Verantwortlich bleibt der Kreml dennoch. Auch die Rede Molotovs wird verständlicher (obgleich nicht netter) wenn man sich die Ereignisse ab 1917 in Osteuropa in Erinnerung ruft. Gleichsam die Politik aller europäischen Großmächte. Man hat lieber Hitler gewähren lassen anstatt ein Bündnis mit der SU einzugehen.
Churchill über Molotov: “Was seine Führung der auswärtigen Politik betrifft, würden ihn Mazarin, Talleyrand und Metternich als einen der ihrigen willkommen heißen …“ Selbstredend hatte Molotov als Bolschewik sicher eine andere Sicht auf die Demokratie bürgerlicher Gesellschaften als deren Vertreter samt Presse. Propaganda gibt es am Ende gar auf allen Seiten, manchmal mit verkürzten wissenschaftl. Diskursen.
Immerhin wurde korrekt angegeben daß der Verfasser eventuell eine transatlantische Perspektive vertritt.
De Rien!

@Thomas: Interessant, wie viele Menschen sich dann doch finden, wenn es um den russischen Imperialismus und seine Propaganda geht, während er ein Land nach dem anderen überfällt, vereinnahmt und zu Satellitenstaaten machen will. Richtig: Säbelrasseln hat noch nie zu einer freieren Gesellschaft geführt. Das wissen die Deutschen eigentlich spätestens seit 1939. Es gibt die SU übrigens nicht mehr, Kommunismus hat auch in dieser nie geherrscht. Geschweige im heute staatskapitalistischen Russland.

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing
lustig, dass immer der SU angekreidet wird, ebenso ruchlos wie die anderen gehandelt zu haben – nimmt man da den real existierenden Kommunismus beim Wort und wirft ihm vor, gegen die von ihm postulierte höhere oder andere Moral gehandelt zu haben?
ohne irgendetwas zu rechtfertigen, sollte gerade ein Historiker sich davor scheuen, monokausale oder unilaterale Geschichte(n) zu schreiben
und, liebe L-IZ, Säbelrasseln hat noch nie zu einer freien Gesellschaft geführt
die Veränderung des politischen und gesellschaftlichen Klimas reicht schon aus – kommt noch die wirtschaftliche Deprivation hinzu, könnt ihr euch ausmalen, welche politischen Kräfte dann die Ernte einfahren
wie es dann dem ergeht, der als „Gegner“ erkannt wurde, könnt ihr der – der Einfachheit halber ausschließlich deutschen – Geschichte entnehmen

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