Nicht erst mit dem Neoliberalismus haben sich viele falsche Bilder vom Wert der Arbeit in den öffentlichen Debatten festgesetzt. Bilder, die von gut bezahlten Politikern, die nie für einen Billigjob malochen mussten, immer wieder aus der Tasche gezaubert werden, um sie ihren Wählern unter die Nase zu halten. Dazu gehören viele falsche Behauptungen zum Mindestlohn. So etwa: „Ein Mindestlohn von 15 Euro gefährdet Arbeitsplätze, treibt die Inflation und schwächt die Wettbewerbsfähigkeit …“
Am Freitag, dem 27. Juni, hat sich die Mindestlohnkommission gegen eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro entschieden und bleibt mit 13,90 Euro für 2026 und 14,60 Euro für 2027 deutlich unter der im Koalitionsvertrag festgelegten Zielmarke der Bundesregierung.
„Kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert“, stellte DIW-Präsident Marcel Fratzscher noch am selben Tag in seiner Kolumne auf „ZEIT Online“ fest. „Schadet ein deutlich höherer Mindestlohn der deutschen Wirtschaft, treibt er die Inflation oder schwächt er die Wettbewerbsfähigkeit? Es ist höchste Zeit, mit fünf häufig vorgebrachten Mythen rund um den Mindestlohn aufzuräumen.“
Ein falscher Vorwand
Und das tat er dann auch. Und setzte den am weitesten verbreiteten Mythos gleich an erste Stelle. Just das Argument, mit dem besonders „wirtschaftsnahe“ Politiker immer wieder gegen einen höheren Mindestlohn wettern.
Dieser Mythos lautet: „Ein höherer Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze.“
„In Wirklichkeit ist er ein Vorwand“, stellt Marcel Fratzscher fest. „Auch wenn es theoretisch plausibel klingt: Höhere Löhne bedeuten, dass einige Unternehmen ihre Kosten nicht mehr decken können, da sie wiederum keine höheren Preise durchsetzen können – Arbeitsplätze könnten so verloren gehen. Doch die Realität in Deutschland seit der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 ist eine andere: Die Beschäftigung ist stark gewachsen, die Arbeitslosigkeit gleichzeitig in der Gesamtbetrachtung gesunken.“
Und das hat Gründe. Denn nicht die Billigheimer treiben die Produktivität in Deutschland voran, sondern die Unternehmen, die bessere Löhne zahlen.
„Drei Gründe erklären, warum selbst deutliche Mindestlohnerhöhungen in den vergangenen zehn Jahren nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt haben“, schreibt Fratzscher. Und zählt dann auf: „Erstens konnten manche Unternehmen höhere Löhne zahlen, indem sie einen Teil ihrer zuvor aufgrund der geringen Löhne höheren Gewinne an die Mitarbeitenden weitergaben. Da im Niedriglohnbereich kaum Tarifverträge gelten, ist die Verhandlungsmacht der Beschäftigten gering.
Zweitens, und noch wichtiger: Der Mindestlohn hat zu einer Umverteilung von Beschäftigung geführt, weg von weniger produktiven hin zu produktiveren Unternehmen, wie eine einflussreiche Studie von Christian Dustmann und Ko-Autorinnen und -Autoren zeigt. Einige Unternehmen konnten den Mindestlohn nicht zahlen, doch die betroffenen Beschäftigten fanden besser bezahlte Jobs in anderen Unternehmen.“
Und noch einen dritten Grund kann er hier anführen, bei dem er sich auf den Nobelpreisträger David Card und seinen Kollegen Alan Krueger berufen kann, die schon vor mehr als 30 Jahren am Beispiel der Fast-Food-Industrie in New Jersey nachgewiesen haben, „dass ein höherer Mindestlohn die Fluktuation senkt, die Mitarbeiterbindung stärkt und dadurch die Produktivität steigert. Weniger Personalwechsel bedeuten niedrigere Kosten und höhere Effizienz – ein Gewinn auch für viele Unternehmen. Zwar lässt sich dies nicht auf alle Branchen übertragen, doch der Mechanismus ist relevant.“
Tatsächlich leidet Deutschland derzeit unter akutem Arbeitskräftemangel, „insbesondere im Niedriglohnbereich. Gastronomie, Einzelhandel und viele weitere Branchen suchen händeringend auch nach ungelernten Arbeitskräften. Das Problem ist also ein Mangel an Arbeitskräften. Ein höherer Mindestlohn könnte den deutschen Arbeitsmarkt attraktiver machen, auch für Arbeitskräfte aus Zentral- und Osteuropa, wenn die Lohnunterschiede gegenüber den Herkunftsländern wachsen.“
Niedriglohn und Bürgergeld
Die vier weiteren Mythen zählen wir hier nur auf. Sie sind genauso unbelegt wie Mythos Nummer 1.
Mythos 2: Der Mindestlohn ist ein schädlicher Eingriff in den Markt
Mythos 3: Der Mindestlohn gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit
Mythos 4: Der Mindestlohn treibt die Inflation
Mythos 5: Die Mindestlohnkommission sollte unabhängig entscheiden – ohne politische Einflussnahme
Aber relevant ist eben auch Fratzschers Hinweis, dass der Mindestlohn zuallererst eine soziale Frage ist: Menschen, die eine vollwertige Arbeit leisten, auch wie Menschen zu bezahlen, die ordentlich arbeiten.
„Etwa zehn Millionen Beschäftigte würden direkt oder indirekt von einem Mindestlohn in Höhe von 15 Euro profitieren“, so Fratzscher. „Eine Studie des DIW Berlin zeigt, dass der gestiegene Mindestlohn der Hauptgrund für das Schrumpfen des Niedriglohnsektors in Deutschland war – und auch die Zahl der Bürgergeldempfänger ist dadurch ein wenig zurückgegangen. 2015 gab es noch rund 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker – also Menschen, die trotz Arbeit Sozialleistungen bezogen.
Bis 2023 sank diese Zahl auf unter 800.000. 2024 ist sie jedoch wieder gestiegen, auch weil der Mindestlohn mit der Entwicklung der Lebenshaltungskosten nicht Schritt gehalten hat. Auch deshalb ist die Entscheidung der Mindestlohnkommission eine verpasste Chance – wirtschaftlich wie sozial.“
Man kann es auch so formulieren für die Rechenkünstler in der entfesselten Bürgergelddebatte: Wer den Mindestlohn einfriert, sodass er den steigenden Lebenshaltungskosten nicht folgt, sorgt für mehr Bürgergeldempfänger. Und es benachteiligt produktivere Betriebe, wenn die Konkurrenz mit Billigjobs die Preise drücken kann. Das ist der falsche Wettbewerb, den sich die sogenannten „Wirtschaftsexperten“ in den neoliberalen Parteien da vorstellen.
Ein Wettbewerb um entwertete Arbeit. Während der bisherige Wirtschaftserfolg Deutschlands stets darauf beruhte, dass hochwertige Jobs mit hoher Produktivität entstanden. Und hohe Produktivität bekommt man nur mit motivierten Mitarbeitern, die sich durch ihr Unternehmen auch wertgeschätzt sehen. Der Mindestlohn ist dazu die unterste Stufe.
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