Da ist so einiges schiefgelaufen in der Silvesternacht am Connewitzer Kreuz. Und zwar schon weit im Vorfeld. Denn dass Polizisten anders agieren, wenn sie mit Bildern einer zu erwartenden „militanten Szene“ und gewalttätiger Konfrontation vorbereitet werden auf ihren Einsatz, das war schon mehrfach in der Vergangenheit zu beobachten. Dass Sachsens Innenminister überhaupt das Wort Deeskalation verwendet, ist bezeichnend genug. Denn dafür braucht man ein Kommunikationsteam vor Ort. Das aber hatte die Polizei gar nicht erst mitgebracht. Umso ernüchternder ist das, was Innenminister Roland Wöller (CDU) dazu zu sagen hat.

Denn der AfD-Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel hatte in seiner Anfrage zu den Silvesterereignissen genau danach gefragt: „Mit welcher allgemeinen und besonderen Lageeinschätzung und welchen konkreten Zielen ging die Polizei in den Einsatz, insbesondere nach den massiven linksextremen Straftaten in Leipzig im vergangenen Jahr und wurden die Einsatzziele erreicht?”

Seine Anfrage wurde vom Innenminister ziemlich flott beantwortet, während die beiden Anfragen der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel erst heute im Lauf des Tages beantwortet werden sollen.

Und gegenüber dem AfD-Abgeordneten äußert sich Innenminister Roland Wöller erstaunlich freimütig über die „mentale“ Vorbereitung des Silvestereinsatzes, die schon eher an die Einstimmung auf eine veritable Straßenschlacht erinnert – mit einem Feindbild, das man mittlerweile nur zu gut aus hiesigen Zeitungen kennt.

„Die Stadt Leipzig stellt einen Schwerpunkt der autonomen Szene und linksextremistischer Gewalt in Deutschland dar. Es existiert eine starke militante, autonome Szene, welche aus der Erfahrung vergangener polizeilicher Einsätze sehr organisiert agiert und auch vor Angriffen auf Polizeibedienstete nicht zurückschreckt. Zurückliegend wurden in den Silvesternächten zudem Brandanschläge an öffentlichen Gebäuden, wie z. B. dem ,Haus des Jungendrechts‘ sowie dem 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes, verübt. Die Lage im Bereich des Linksextremismus in Leipzig im Jahr 2019 war zudem u. a. durch Brandanschläge auf Personenkraftwagen des politischen Gegners, Baustellen, Baugeräte und öffentliche Einrichtungen, durch Angriffe auf Privatpersonen sowie auf Polizeibeamte aus Versammlungen heraus gekennzeichnet.

In Auswertung der zurückliegenden Silvestereinsätze sowie der aktuellen Lage wurde mithin ein erhöhter Bedarf an polizeilichen Schutz- und Interventionsmaßnahmen deutlich. In der jüngsten Vergangenheit wurden zunehmend Veröffentlichungen mit zugleich steigernder Verbalaggressivität festgestellt, welche die Polizei als Feindbild der Linksautonomen Szene darstellen und zu Auseinandersetzungen aufrufen.

Bei den letzten sechs Jahreswechseln versammelten sich am Connewitzer Kreuz zwischen 1.000 und 1.300 Personen. Die Zahl der registrierten Straftaten bewegte sich dabei zwischen drei und 39. Für den Jahreswechsel 2019/2020 wurde eine vergleichbare Personenzahl prognostiziert. Hier wird seit Jahren die Konfrontation insbesondere durch linksorientierte Personen mit der Polizei gesucht. In unterschiedlichem Maße kam es hierbei immer wieder zu Sachbeschädigungen sowie gewalttätigen Angriffen auf eingesetzte Polizeibeamte. Von ähnlichen Vorgängen war auch für den hier in Rede stehenden Jahreswechsel auszugehen.“

Deeskalation ohne Deeskalationsteam?

Kein Wort davon, dass es in den vergangenen Jahren gelungen war, die Lage zu deeskalieren. Und die erwähnten 1.000 bis 1.300 Personen waren schlicht die normalen Connewitzer, die am Kreuz leben, Silvester feiern und nicht im Ansatz auf Aggression getrimmt sind. Das bestätigte auch der Polizeibericht zur Silvesternacht 2019/2020, in dem von 20 bis 30 Gewaltbereiten ausgegangen wurde.

Und auch in Wöllers Auskunft bleibt die Darstellung der Vorgänge in den Morgenstunden des 1. Januar erstaunlich chaotisch: „Gegen 00:15 Uhr wurden in der Selnecker Straße, welche ebenfalls als Bereitstellungsraum für Polizeikräfte diente, Polizeibedienstete durch gewaltbereite Personen aus einer Gruppe heraus angegriffen. Hierbei wurden die Beamten mit Pyrotechnik, Steinen und Flaschen beworfen. Weiterhin wurde ein Einkaufswagen, in welchem sich brennendes Material befand, in Richtung einer Gruppe der Einsatzkräfte geschoben.

Beim Versuch, handelnde Personen zu ergreifen, wurden drei Angehörige der Bereitschaftspolizei mit Schlägen und Tritten angegriffen. Diese Attacken wurden auch fortgesetzt, als diese bereits ohne Schutzhelm am Boden lagen. In Folge dieser massiven Angriffe wurden die Beamten verletzt. Einer davon so schwer, dass er sein Bewusstsein verlor. Zudem erlitt er erhebliche Kopfverletzungen. Bei der Bergung der Beamten durch deren Einheit kam es weiterhin zu massiven Bewürfen. Der schwer verletzte Beamte wurde nach einer Erstversorgung durch den Rettungsdienst in ein Krankenhaus verbracht. Die schweren Verletzungen mussten operativ behandelt werden. Der Beamte wurde für mehrere Tage stationär aufgenommen.“

Wenn all diese Eingriffe der Polizisten „in dislozierten“ Gruppen deeskalierend wirken sollten, dann haben sie genau das Gegenteil erreicht. Die gewaltbereiten Personen fühlten sich zu Recht herausgefordert und die friedliebenden Feiernden fanden sich auf einmal in einer Szenerie zunehmend entfesselter Gewalt wieder.

Eine widersprüchliche Einsatzstrategie

Wie widersprüchlich das Einsatzkonzept war, wird in dieser Aussage des Innenministers deutlich: „Zusammenfassend sah die Einsatzstrategie eine deeskalierende Vorgehensweise bei gleichzeitigem konsequentem Einschreiten bei Feststellung von Straftaten vor.“

Wie gesagt: Zur Deeskalation hätte man ein Kommunikationsteam gebraucht. Das gab es aber nicht.

Stattdessen wurden die Polizisten in Gruppen an verschiedenen Stellen platziert und einfach losgeschickt, wenn der Abschnittsleiter meinte, eine Straftat gesehen zu haben. Das ist das beste Rezept, eine bis dahin noch geordnete Silvesterfeier zum Entgleisen zu bringen.

Wobei die Antwort des Ministers eben auch bestätigt, dass es in Wirklichkeit keine Deeskalationsstrategie gab, sondern sogar eine sehr forcierte Polizeistrategie: „Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten standen bei der Einsatzbewältigung genauso im Focus (sic!) wie die Verhinderung von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Sachbeschädigungen durch frühzeitige Kenntniserlangung, schnelle Beendigung von Auseinandersetzungen, konsequente und beweissichere Strafverfolgung.“

Das war die eigentliche Strategie, die dazu geführt hat, dass die Polizisten in kleinen Gruppen vorgingen, um mutmaßliche Straftäter aus der Menge zu fischen. Und damit genau das in Gang setzten, was dann ab dem 1. Januar wieder feurige Schlagzeilen zu Connewitz ergab, während die anderen beiden Brennpunkte der Leipziger Silvesternacht – der Augustusplatz und das Hauptbahnhofsumfeld einfach aus der Berichterstattung verschwanden.

Wöller geht davon aus, dass „Straftäter, in dem Wissen, dass die Polizei sich nicht ihrem gesetzlichen Auftrag entziehen kann, öffentlichkeitswirksame Straftaten an Einrichtungen und Objekten“ verüben „um letztlich das Einschreiten der Polizei zu erzwingen“.

„Diesen Umstand berücksichtigend wurde ein Konzept der dislozierten Präsenz festgelegt“, versucht er die völlig entgleiste Polizeistrategie zu erklären. „Diese Strategie und auch der Kräfteansatz orientierten sich dabei an den vergangenen Jahren. Die Intention dabei war, keine polizeiliche geschlossene ,Front‘ aufzubauen und damit eine möglicherweise einschüchternde Präsenzwirkung zu erzielen, sondern die Anwesenheit von Polizeikräften in kleinen Teams zu gestalten. Das Einsatzkonzept wurde umgesetzt.“

Kein Wort dazu, ob das Einsatzkonzept diesmal vielleicht nicht doch das falsche war. Und die Abkehr von den in den Vorjahren tatsächlich erprobten Deeskalationsstrategien ein schwerer Fehler durch die Einsatzleitung.

Sicherheit ist für eine Partei, die seit 30 Jahren den Innenminister stellt, kein wirklich gutes Wahlkampfthema

Sicherheit ist für eine Partei, die seit 30 Jahren den Innenminister stellt, kein wirklich gutes Wahlkampfthema

Hinweis der Redaktion in eigener Sache (Stand 24. Januar 2020): Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen. Doch eben das ist unser Ziel.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen und ein Freikäufer-Abonnement abschließen (zur Abonnentenseite).

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Aufrechterhaltung und den Ausbau unserer Arbeit zu unterstützen.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 350 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar