VideoMal wieder laufen in Leipzig. Und tanzen. Abschütteln, was einen längst täglich an Staub und Mief umgibt. Einen „Heimat-Horst“ und eine abdriftende CSU/CDU in Wahlkämpfen in Bayern und Sachsen, fremdenfeindliche Positionen im Alltag und diese ewige Panik vor irgendetwas mit Ausländern. Es wirkt wie Platzangst auf einem unüberschaubar großen Feld von Möglichkeiten, wenn sich derzeit die globalen Mauerbauer auf den Weg machen. Alles raustanzen. Natürlich warten auch auf die rund 3.000 Demo-Teilnehmer, die am 14. Juli einen weiten Weg von Plagwitz bis zum Friedenspark abtanzten, Herausforderungen und neue Wege in der Zukunft. Aber welche sie lieber gehen wollen, das wurde deutlich. Eine Mauer war jedenfalls nicht dabei.

Manchmal wünscht man einem heute 69-jährigen Innenminister die Kraft und Zuversicht, die er als junger Mann vielleicht hatte, zurück. Eher hat er es auch nur nie erfahren, war nie wirklich jung und zuversichtlich. So ein kleines Stück echte Verrücktheit, ein Loslassen im Jetzt und den Spaß an der Freude selbst. Und dann am nächsten Tag, mehr von sich und seiner Liebe zu allem um ihn herum, eine Entscheidung: Wir schaffen das. Wir müssen umgehend die Hilfe für Afrika hochfahren, verändern diese Welt: weniger Waffen, mehr Miteinander, Hilfe für die, die sich nicht immer selbst helfen können.

Kann er wohl nicht mehr, er ist nun alt und wenig weise geworden. Dafür laut und aggressiv, wie so viele, die nie wirklich (friedlich) ausgeflippt sind. Noch immer zu kolonial im Denken und zu klein im Ich, zu wenig Welt und zu viel Wohnzimmer mit Glotze und sozialer Blase.

Ein Highlight neben dem Live-Rap auf einem weiteren Wagen: Lebensfreude und Tanzen. Video: L-IZ.de

Schlau, sehr schlau gemacht

Die diesjährige GSO stand unter einem sperrigen Motto. „Diversität. Verantwortung. Solidarität.“ Dafür muss man den Ausdenker(inne)n der Parole danken. Ein Dreiklang wie „Liberté, Egalité et Fraternité“ und – wohl auch wissend deutsch formuliert – heutiger, weil sich selbst bewusst erwachsener. Das Anerkenntnis, dass diese Welt eben nicht deutsch, sondern divers, verschieden auch in Deutschland und so auch reicher ist, als neutotonische Allmachtsfantasien.

Hinzu das Selbstverständnis, dafür auch Verantwortung zu übernehmen. Also einzustehen für das Anderssein des Nächsten, die fehlende Möglichkeit eine steigende Miete zu zahlen oder auch nur die eigene Irrtümlichkeit.

Und die Überlegung, wie man eigentlich zusammenleben könnte, wenn es an Solidarität untereinander, am einfachen Helfen in der Not mangelt. Eingedenk der eigenen, vielleicht kommenden Probleme im Leben.

Und dann doch nur eine Art Loveparade für ein paar Leipziger? Sagt ja der Kritiker gern so, wenn er gerade mal wieder keine Zeit hatte, den Tag mit den Tanzenden zusammen zu verleben. Oder sich mal mit der Geschichte des Wagenzuges der Leipziger Clubs befasst hat – so von Hanfparade bis zur politischen Club-Demonstration. Und dennoch gern am Wegesrand steht und Handyvideos vom Geschehen für die anderen daheimgebliebenen Facebookfreunde fertigt. Die ja dann alle nicht mitgetanzt, nicht miterlebt, sondern nur eine fade Kopie davon erhalten haben. Im irrigen Glauben, dass das ein selbst gelebtes Leben wäre.

Der Tag auf der GSO 2018 – Teil 1. Von der Jahnallee bis zum Augustusplatz & die Reden dort. Video: L-IZ.de

Die Initiatoren hatten bereits vorab etwas geschrieben, was man eigentlich als Kritik an fehlender kluger Politik und als Aufruf zu mehr Selbermachen verstehen muss. Eine Kritik, die fragt, ob einige es regelrecht geil finden, dass wieder Bomben platzen und scheinbar kein Friede auf der Welt möglich ist.

„Wenn bis zur absoluten Eskalation gewartet wird – bis z.B. die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen Menschen in Flüchtlingsunterkünften nahe Syrien wegen fehlender Mittel nicht mehr versorgen bzw. gar am Leben halten kann – dann besteht kein Recht darauf sich jetzt über `zu viele` Flüchtlinge aufzuregen oder gar menschenrechts- und verfassungswidrige Obergrenzen zu fordern. In dieser aufgeladenen Stimmung, in der uns die `Gaskammer-Blicke` der Herren Höcke & Co. beim Sprechen über eine 188-Grad-Wende in der deutschen Erinnerungskultur entgegenschlagen, möchten wir mit euch hier und heute sowie in Zukunft für demokratische Werte einstehen und dem tumben Hass entgegensetzen: Vielfältigkeit statt Einfältigkeit!“

So also die GSO-Macher des Jahres 2018.

Und offenbar haben die jungen Menschen verstanden, dass sie mal wieder verschaukelt werden sollen. Nicht nur in ihrer Stadt, sondern global.

Denn über die Trumps, Seehofers und alle „Populisten als selbstgekrönte `Retter` irgendeines Abendlandes“ haben sie folgendes zu sagen: „Diese `Pseudohelfer` schreien laut über tatsächlich vorhandene Ungerechtigkeit, aber präsentieren nichts Hilfreiches, sondern nur Ausreden und heiße Luft. Die Unsicherheiten, die die vielen globalen Konflikte mit sich bringen, werden von ihnen ausgenutzt und schnelle vermeintliche Lösungen präsentiert. Die Schuld für Unsicherheit, Wohlstandseinbußen und reale Existenzängste wird bei Minderheiten und wirtschaftlich noch schlechter Gestellten gesucht, die man als Sündenböcke präsentieren will.“

Letztlich also schon klüger, als so mancher, der heute noch im Amt Wirkung entfaltet. Tanzen scheint auch den Staub aus den Hirnen zu vertreiben. Und nun ist wohl wirklich die Überlegung angebracht, welche(n) Politiker(in) man letztlich beim befreiten Tanzen beobachten konnte.

Dem Autor fiel nach Abzug des betrunken niederfallenden Boris Jelzin, dem schwerttanzenden Donald Trump in Saudi-Arabien und einem zuletzt zunehmend torkelnden Jean-Claude Juncker beim abschließenden “Sit-in” im Leipziger Friedenspark keine(r) ein.

Die Redebeiträge auf dem Augustplatz solo. Ua. Mit Skadi Jennicke (Kulturbürgermeisterin Leipzig), Vertreterinnen des Villa e.V., Jürgen Kasek (Anwalt des IfZ & Grünen-Politiker) sowie eines Sprechers der Initiative “Stadt für Alle”. Video: L-IZ.de

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„Auf der Straße“: Die GSO 2017 läuft durch Leipzig + Video

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