Es war eine durchaus verzwickte Frage, die die Ratsversammlung dazu brachte, einen Beteiligungsrat Gemeinwohl einzuberufen. 50 ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollten sich Gedanken darüber machen, wie „gesellschaftliches gemeinwohlorientiertes Engagement der Einwohnerinnen und Einwohner“ wirklich gefördert werden könnte. Ein Problem, das der im April 2022 gegründete „Runde Tisch Gemeinwohl“ aufgebracht hatte. Am 15. November übergab der Beteiligungsrat in der Ratsversammlung die Ergebnisse seiner Arbeit.

Am Ende gab es zwölf Empfehlungen an Stadt und Stadtrat, wie die Beteiligung der Bürger verbessert werden könnte. Eigentlich sollten es nur elf werden, aber eine Handvoll Beteiligter wollte am Ende unbedingt noch das Thema Klima mit einbringen. Was André, der für den Beteiligungsrat sprach, gar nicht so gut fand. Tatjana, die die Beteiligungsprobleme für Hörgeschädigte thematisierte, fand das Thema aber gut. Nicht jeder müsse alle Themen wichtig finden. Aber auch die Interessen kleiner Gruppen müssten Berücksichtigung finden.

Warum der „Runde Tisch Gemeinwohl“ gerade dieses Thema von einem Beteiligungsrat aus Bürgersicht beleuchtet haben wollte, formulierte die Beschlussvorlage vom April so:

„Vor dem Hintergrund des enormen Wachstums Leipzigs, gesellschaftlicher Spannungen und internationaler Krisen gewinnt der Gemeinwohlgedanke institutionenübergreifend an Bedeutung. Umso wichtiger erscheint es, die Auseinandersetzung über das Thema Gemeinwohl unter der breiten Beteiligung der Stadtgesellschaft anzuregen und insbesondere Menschen in den Dialog einzubinden, die sich nicht (mehr) am politischen Willensbildungsprozess beteiligen oder in gewählten Parlamenten oft stark unterrepräsentiert sind.

Das ist u. a. für Menschen mit geringem Einkommen, Alleinerziehende oder Menschen mit Migrationshintergrund der Fall. Überregionale wie lokale Umfrage zeigen bspw. regelhaft eine Korrelation zwischen geringerem Einkommen/schlechterer Einschätzung der eigenen Perspektive und geringer zivilgesellschaftlicher wie politischer Beteiligung. Dieser Zusammenhang lässt sich auch für bisherige Beteiligungsverfahren in Leipzig feststellen (s. Leipziger Demokratiemonitor 2020 bzw. kommunale Bürgerumfrage 2020/21).

Zudem ist die Politikverdrossenheit in Leipzig Altersgruppen und Wohnort übergreifend stark ausgeprägt (vgl. ebd.). Gleichzeitig zeigen diese Umfragen, dass sich eine Mehrheit der Menschen in Leipzig mehr beteiligen möchte (ebd.). Diese Sachlage ist ein klarer Auftrag für die Demokratieförderung und die Beteiligungsverantwortlichen der Stadt. Es gilt, dieses Potenzial zu nutzen und Menschen neue Möglichkeiten zur Beteiligung und Mitwirkung zu eröffnen.“

Die Barrieren für echte Beteiligung

Da war es schon erstaunlich, mit welcher Vehemenz Stadträtin Ute-Elisabeth Gabelmann (Piraten) die Arbeit des Beteiligungsrates am Ende infrage stellte. „Welche neuen Erkenntnisse?“, fragte sie. Besonders verwirrend fand sie, dass viele der ausgelosten Teilnehmer/-innen gar nicht teilnehmen wollten und manche geradezu „zum Jagen getragen werden mussten“. Sei denn nicht eigentlich der gewählte Leipziger Stadtrat das gelebte Beispiel bürgerlichen Engagements?

CDU-Stadträtin Sabine Heymann waren dann die zwölf Vorschläge des Beteiligungsrats zu unkonkret, das gesamte Thema sowieso zu abstrakt. Daran sei aber eher die Ratsversammlung schuld.

Aber genau dafür, dass sie das so abstrakte Thema trotzdem angepackt hatten, bekamen die Teilnehmer/-innen des Beteiligungsrats Lob von Juliane Nagel (Linke), Katharina Krefft (Grüne) und Anja Feichtinger (SPD). Denn mit ihren zwölf Vorschlägen bestätigten die Mitglieder des Beteiligungsrates, dass die Ratsversammlung so ganz weltfremd nicht ist und mit gutem Recht seit einigen Jahren darüber diskutiert, wie Bürgerbeteiligung besser organisiert und vor allem Barrieren abgebaut werden können.

Die zwölf Empfehlungen des Beteiligungsrats Gemeinwohl.

Denn hinter dem so lax formulierten Zum-Jagen-Tragen steckt in Wirklichkeit genau das, was auch der „Runde Tisch Gemeinwohl“ festgestellt hatte: Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben eine gewaltige Distanz zur politischen Teilhabe oder zum Engagement, sind mit ihren eigenen Problemen völlig ausgelastet, leiden oft genug unter Zugangsbarrieren, die auch Verwaltung und Politik nicht sehen. Und natürlich trifft das auch auf die 50 Menschen zu, die sich dann bereiterklärten, am Beteiligungsrat teilzunehmen und eine Menge Zeit dafür zu opfern.

Wer war im Beteiligungsrat?

Für den Beteiligungsrat Gemeinwohl wurden umfangreiche Maßnahmen zum Abbau von Barrieren umgesetzt, betont das Referat Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Das ermöglichte die Teilnahme von vielen Menschen, die auf diese Unterstützung angewiesen sind (z. B. Dolmetschen oder Kinderbetreuung).

Es wurde deutlich, dass Menschen mit erhöhtem Bedarf an Barrierereduktion oder mit Behinderungen nicht nur, wie so oft wahrgenommen, Adressaten von Engagement sind, sondern sich selbst auch als Akteurinnen und Akteure verstehen. Der Abbau von Barrieren fördert somit das Gemeinwohl sowie gemeinwohlorientiertes Engagement.

Der Beteiligungsrat Gemeinwohl war der erste von der Stadt Leipzig selbst durchgeführte Bürgerrat. Das Format zeichnet sich insbesondere durch die Rekrutierung per Zufallsprinzip aus dem Melderegister aus. Der Beteiligungsrat befasste sich mit der Frage, wie das gemeinwohlorientierte Engagement von Leipzigerinnen und Leipzigern gefördert und angeregt werden kann.

Es beteiligten sich 50 Personen aus insgesamt 23 Orts- und Stadtteilen sowie einem breiten Altersspektrum. So waren 20 von ihnen Schülerinnen und Schüler. Durch umfangreiche Maßnahmen zum Abbau von Teilhabebarrieren sowie das persönliche Aufsuchen der Eingeladenen im Fall einer ausbleibenden Antwort („aufsuchendes Losverfahren“) wurde die Partizipation einer äußerst heterogenen Gruppe ermöglicht.

Was man auch so zusammenfassen kann: Viele Bürger der Stadt würden sich viel reger beteiligen – auch für das Gemeinwohl –, wenn sie es nicht mit jeder Menge Barrieren zu tun bekämen, die die „hohe Politik“ einfach nicht sieht

Die zwölf Empfehlungen gingen deshalb auch auf den Abbau solcher Barrieren ein, auch wenn sie nicht konkret benannt wurden. Aber man merkte schon: Das geht mit Kinderbetreuung los, setzt sich mit Sprachbarrieren fort, mit fehlenden Räumen, Unverständnis füreinander, gesundheitlichen Einschränkungen, aber auch Nicht-Aktzeptanz. Motto: Hier sind die Engagierten, die sich sowieso schon aufopfern für das Gemeinwohl, und dort die, die man auch mit Hausbesuchen nicht zum Mitmachen bringt.

Engagement muss gefördert werden

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen sich in vier Sitzungen im Sommer 2023. Sie formulierten zwölf Empfehlungen zur Anregung und Förderung gemeinwohlorientierten Engagements, die sich an die Stadtpolitik richten.

Und auch die Verwaltung stellt fest, dass die Empfehlungen am Ende gar nicht so überraschend waren: „Die Empfehlungen sind eine Bekräftigung der vielfältigen vorhandenen Instrumente und Maßnahmen im Bereich der städtischen Engagementförderung. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese noch bekannter werden sollten.

Eine weitere Erkenntnis ist, dass Rahmenbedingungen besonderen Einfluss auf die Bereitschaft und die Möglichkeit haben, sich gemeinwohlorientiert zu engagieren, sei es im Bereich finanzielle Entlastung – beispielsweise durch Aufwandsentschädigungen, Stipendien oder Freistellungen – oder mittels Anregung von Engagement durch das Umfeld wie z. B. Arbeitgeber oder Bildungsinstitutionen.“

Die Stadt will mit den Empfehlungen nun arbeiten. Vielleicht entstehen daraus ja wirklich neue, möglichst barrierefreie Angebote, an denen sich eben auch Leipzigerinnen und Leipziger beteiligen können, die bislang eher mit lauter Barrieren zu tun bekamen, wenn es um eine Wortmeldung zum Gemeinwohl ging.

Was übrigens auch die Vorlage vom April schon formulierte: „Folglich bedarf es innovativer Formate und insbesondere neuer Formen der Rekrutierung und Ansprache von zu beteiligenden Menschen.“ Der Beteiligungsrat war ja selbst schon so ein Modell, bisher eher ausgeschlossene Bürger zu einem gemeinsamen Findungsprozess zusammenzubekommen.

Den gesamten Bericht findet man hier.

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