Selbst in der Arbeitszeitstatistik macht sich der Zeitenwechsel bemerkbar, der 2013 in Sachsen begann und mit der Einführung des Mindestlohns 2015 einen ersten Höhepunkt erreichte. Die Sachsen arbeiten scheinbar – rein statistisch betrachtet – weniger. Auch wenn fünf Stunden – aufs Jahr gerechnet – erst einmal nicht viel klingt.

Im Jahr 2016 betrug das durchschnittliche Arbeitspensum eines Erwerbstätigen in Sachsen 1.418 Stunden, 0,3 Prozent bzw. fünf Stunden weniger als 2015, teilt das Landesamt für Statistik mit. Aber mit erfolgreichen Streiks, mit denen die Gewerkschaften neue Arbeitszeitverkürzungen erstritten haben könnten, hat dieser Rückgang nichts zu tun.

Gleichzeitig nahm die Zahl der Erwerbstätigen im Jahresdurchschnitt 2016 um 1,2 Prozent zu, stellen die Statistiker noch fest.

Und sehen zwei deutliche Gründe dafür, warum das so kam: Zu den Hauptursachen für das geringer gewordene Arbeitsvolumen je Erwerbstätigen gehören die deutliche Abnahme der marginalen Beschäftigung und der beträchtliche Anstieg von Teilzeitbeschäftigung. Das heißt: Immer weniger Sachsen müssen für Niedriglohn viel arbeiten (Rückgang der marginalen Beschäftigung), und die Unternehmen kompensieren das, indem sie mehr Menschen in einer besseren Teilzeitstelle unterbringen.

Was sich sogar sehr genau nach Branchen sortieren lässt.

Die Landesstatistiker: Den höchsten Rückgang verzeichnete mit acht Stunden je Erwerbstätigen der Bereich Handel, Verkehr, Gastgewerbe Information und Kommunikation.

 

Arbeitsvolumen nach Bundesländern. Grafik: Freistaat Sachsen, Landesamt für Statistik
Arbeitsvolumen nach Bundesländern. Grafik: Freistaat Sachsen, Landesamt für Statistik

Hier sind die beiden Hauptbranchen zu finden, die sich gerade durch die Einführung des Mindestlohns gezwungen sahen, ihre bisherige Geschäftspolitik der prekären und marginalen Beschäftigung zu ändern – der Einzelhandel und Hotels und Gastronomie. Gerade die letzten beiden sind aber in Sachsen (und in den Großstädten besonders) richtige Wachstumsbranchen. Sie brauchen also immer wieder neue Leute. Das (amtlich registrierte) Arbeitsvolumen wächst entsprechend.

Aber was nicht verschwunden ist, ist die hohe Stressbelastung in vielen Wirtschaftsbereichen. Die Krankenkassen berichten ja regelmäßig darüber – vor allem psychische Belastungen und entsprechende Ausfallzeiten nehmen zu.

Was dann den zweiten großen Einflussfaktor auf die Arbeitszeit pro Kopf ausmacht: der Anstieg von Ausfallzeiten durch Krankheit.

Gemütlicher ist es auf dem sächsischen Arbeitsmarkt also ganz bestimmt nicht geworden.

Die Pro-Kopf-Arbeitszeit in Sachsen lag 2016 um 54 Stunden über der Arbeitszeit je Erwerbstätigen in Deutschland, die 1.364 Stunden erreichte. Auch das so eine unsichtbare Mauer, die sich quer durch die Republik zieht. In den sechs ostdeutschen Ländern wird nicht nur bis zu 20 Prozent weniger verdient, man arbeitet auch noch im Schnitt 73 Stunden (rund 5 Prozent) länger als im Westen der Republik.

Wobei Berlin (aus historischen Gründen) nur leicht überm deutschen Durchschnitt liegt, aber 2016 unübersehbar die größte Steigerung im Arbeitsvolumen aller Bundesländer hingelegt hat. Das heißt: Wo Sachsen einen großen Teil seines Arbeitskräftebedarfs noch immer aus dem Reservoir der marginalen Beschäftigung decken konnte, hat Berlin diesen Puffer nicht mehr. Auch für die ostdeutschen Flächenländer ist absehbar, dass auf diese Weise der zunehmende Fachkräftebedarf nicht mehr lange gedeckt werden kann.

Während in den fünf neuen Ländern die Arbeitszeit je Erwerbstätigen 1.425 Stunden betrug,  kamen die Beschäftigten in den alten Ländern (ohne Berlin) auf einen Pro-Kopf-Wert von 1.352 Stunden.

In Sachsen war auch 2016 das Baugewerbe mit 1.640 Stunden die Branche mit der längsten Pro-Kopf-Arbeitszeit. Diese betrug aktuell sechs Stunden weniger als 2015. Im Gegensatz dazu fiel die durchschnittliche Arbeitszeit im Bereich Öffentliche und sonstige Dienstleister, Erziehung und Gesundheit mit 1.355 am niedrigsten aus (fünf Stunden weniger als im Vorjahr). Hier fällt freilich auf, dass das Arbeitsvolumen stärker stieg als in allen anderen Branchen. Das heißt: Gerade im Bereich der Pflege und der öffentlichen Erziehung sind augenscheinlich viele der neuen Tätigkeiten vor allem Teilzeittätigkeiten. Auch eine Art, beim Personal zu sparen.

Was aber nicht mehr wirklich lange gutgehen wird. Gerade rauscht der komplette öffentliche Dienst in Sachsen in ein riesiges Desaster fehlender Arbeitskräfte hinein. Sowohl Freistaat wie auch Kommunen haben sich viel zu lange damit eingelullt, dass es ja da draußen mehr als genug Bewerber für die eigentlich lukrativen Staatsjobs gibt. Komplette sieben Jahre hat man vertrödelt und die Meldungen mehren sich, dass man jetzt nicht einmal mehr das Personal bekommt, das die Altersabgänge abdeckt.

Sachsen verwandelt sich aus dem „Vorzeigeland“ der Niedriglöhner in ein Land, das seinen Fachkräftebedarf nicht mehr aus eigener Kraft decken kann. Und wer glaubt, das würde in den oberen politischen Etagen für Aufregung sorgen, der irrt. Dort steckt man gedanklich noch immer im Niedriglohn- und Wir-Schrumpfen-Zeitalter.

Von den 2,04 Millionen Erwerbstätigen in Sachsen 2016 wurden 2,89 Milliarden Arbeitsstunden erbracht, 0,8 Prozent mehr als 2015. Im Vergleich zu 2010 stieg das Arbeitsvolumen um 0,5 Prozent, während bei der Erwerbstätigkeit ein Zuwachs um 3,1 Prozent eintrat.

Wobei der Blick ins Jahr 2011 viel aufschlussreicher ist. Denn damals wurde mit 2.899,9 Millionen Arbeitsstunden ein Gipfel erreicht – nämlich der Gipfel der marginalen Beschäftigung. Nie vorher und nie wieder danach waren so viele Sachsen in prekären Jobs beschäftigt und arbeiten sehr lange für sehr wenig Geld.

Erst 2012 änderte sich das, als der 2010 einsetzte Mangel an Auszubildenden sich als echtes Fehlen verfügbarer Fachkräfte erwies und die ersten Unternehmen gezwungenermaßen begannen, die marginalen Jobs zu tariflich bezahlten Teil- und Vollzeitstellen umzurüsten. Dieser Prozess hält bis heute an, führte zwischendurch auch zu einem Schrumpfen der Gesamtarbeitszeiten. Aber 2016 stieg das gemessene Arbeitsvolumen wieder deutlich an und wird wohl in den nächsten Jahren auch den Wert von 2012 wieder deutlich übersteigen.

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