Am Mittwoch, 2. Oktober, haben die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Konjunkturprognose für Deutschland deutlich nach unten korrigiert. Waren sie im Frühjahr noch von einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von 0,8 % im Jahr 2019 ausgegangen, erwarten sie jetzt nur noch 0,5 %. Die Welt steckt in einer Krise. Und die hat – was die Institute natürlich nicht vermelden – mit dieser Besessenheit vom (BIP-)Wachstum zu tun.

Als Gründe für die schwache Entwicklung benennen die fünf Institute die nachlassende weltweite Nachfrage nach Investitionsgütern, auf deren Export die deutsche Wirtschaft spezialisiert ist, politische Unsicherheit und strukturelle Veränderungen in der Automobilindustrie. Was eigentlich doppelt gemoppelt ist, denn es ist vor allem die sinkende Nachfrage nach deutschen Autos, die die sinkende Exportquote bestimmt. Was eigentlich nicht Schlechtes ist. Denn die jahrelangen deutschen Exportüberschüsse haben genau das mitbewirkt, was jetzt zur Krise beiträgt: eine nachlassende weltweite Nachfrage.

Aber die fünf Institute machen auch deutlich, dass sie gar nicht wirklich in der Lage sind, wirtschaftliche Veränderungen zu beschreiben. Dazu sind die ganzen mathematischen Modelle für abstrakte Ökonomieberechnungen schlicht nicht geeignet. In dieser Formel-Welt ist das Ende des erdölgetriebenen Autozeitalters eine Katastrophe – oder zumindest ein Faktor, der das angehimmelte „Wachstum“ demoliert. Nicht-Wachstum ist in diesen Modellvorstellungen ein Malum. Und solange nicht einmal die „führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute“ aus dieser Denkfalle herauskommen, werden auch die Panikattacken bis in die Politik hinein nicht enden. Denn was Angela Merkel einmal als „alternativlos“ benannt hat, ist die Scheuklappendenkweise dieser Art Wirtschaftsbetrachtung.

Was dann dazu führt, dass die Bundesregierung immer wieder riesige Milliardenpakete auflegt, die dann die Kauflaune der Konsumenten künstlich puschen sollen.

Der Fokus bleibt dabei die ganze Zeit auf Konsum und Industrie gerichtet.

„Die deutsche Industrie befindet sich in einer Rezession, die inzwischen auch auf die unternehmensnahen Dienstleister durchschlägt“, sagt Claus Michelsen, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik des gastgebenden Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Dass die Wirtschaft überhaupt noch expandiert, ist vor allem auf die anhaltende Kauflaune der privaten Haushalte zurückzuführen, die von den guten Lohnabschlüssen, Steuererleichterungen und Ausweitungen staatlicher Transfers gestützt wird.“

Wobei wir an dieser Stelle das Wort „Kauflaune“ einfach mal mit einem dicken Fragezeichen versehen. Denn dahinter stehen eher keine gestiegenen Shopping-Träume, sondern eben das, was Michelsen anführt: nach Jahren endlich ein paar wichtige höhere Lohnabschlüsse (auch und gerade im Osten) und „Ausweitungen staatlicher Transfers“. Was eben bedeutet, dass sich viele Erwerbstätige und Transfer-Empfänger endlich die notwendigen Anschaffungen leisten können, die vorher nicht drin waren. Ob die Steuererleichterungen irgendeine Wirkung haben, ist eher fraglich. Sie kommen meist nur Haushalten zugute, die eh schon genug verdienen und auch keine Extra-Anschaffungen brauchen. Es sei denn, sie stecken das Geld wieder in Immobilien, wo es weitere Verheerungen anrichtet.

Unsere Gesellschaft leidet nicht unter zu wenig Geld, sondern unter zu viel Geld in den falschen Kanälen. Und auch nicht unter zu hohen Steuern, sondern unter zu niedrigen – nämlich genau da, wo die ganze Zeit Geld abfließt aus den Wirtschaftskreisläufen und sich in wild wucherndes Anlagekapital verwandelt. Und dabei so beiläufig die Immobilienpreise in die Höhe jazzt. Darüber berichtete ja der „Spiegel“ am Mittwoch gerade im Zusammenhang mit einer DIW-Studie: „Immobilienboom macht Hausbesitzer (noch) reicher“.

Aber mit den Wirkungen irre laufenden Kapitals beschäftigen sich die Wirtschaftsexperten ja nicht.

Lieber orakeln sie über die politischen Entwicklungen in der Welt: Weltweit bleiben die politischen Unwägbarkeiten bestehen und belasten über die Investitionsbereitschaft der Unternehmen den Außenhandel, heißt es dann.

„Vor allem die Risiken ausgehend von einer Eskalation des Handelskonflikts sind hoch. Aber auch ein ungeregelter Brexit hätte Kosten: Das Bruttoinlandsprodukt würde in Deutschland dadurch für sich genommen im kommenden Jahr um 0,4 % niedriger ausfallen als bei einem geregelten Austritt“, ergänzt Michelsen.

Seit dem Frühjahr haben sich die Risiken für die deutsche und die weltweite Konjunktur allerdings verschärft, so das IWH (Halle). Die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China, aber auch innerasiatische Konflikte schüren Unsicherheit und belasten die internationale Konjunktur. Auch ein ungeregelter Brexit dürfte die europäische Wirtschaft und insbesondere auch die deutsche Wirtschaft belasten. Hierzulande stellen zudem Prozesse des strukturellen Wandels im Fahrzeugbau Risiken für den so wichtigen Automobilmarkt dar.

Für die fünf Wirtschaftsinstitute ist dann die nächste Folgerung ganz einfach: Der Beschäftigungsaufbau verliert als Folge der konjunkturellen Abkühlung an Fahrt; die Industrie hat jüngst sogar Stellen abgebaut.

Aber da ist ja so ein seltsamer Gegentrend: Hingegen stellen Dienstleister und die Bauwirtschaft weiter ein. In diesem Jahr rechnen die Institute daher mit einem Beschäftigungsaufbau von 380.000 Stellen. In den kommenden beiden Jahren werden voraussichtlich nur noch 120.000 beziehungsweise 160.000 neue reguläre Arbeitsverhältnisse geschaffen.

Die Arbeitslosenquote steigt dann also im Jahr 2020 auf 5,1 % von 5,0 % im Jahr 2019 und dürfte dann im Jahr 2021 wieder auf 4,9 % sinken.

Die Eckdaten für die Prognose der fünf Wirtschaftsinstitute. Grafik: IWH Halle
Die Eckdaten für die Prognose der fünf Wirtschaftsinstitute. Grafik: IWH Halle

Nur dass die Dienstleister, die heute schon verzweifelt nach Arbeitskräften suchen, eben nicht die wirtschaftsnahen Dienstleister sind, sondern Dienstleistungen aus dem sozialen Kern unserer Gesellschaft: Pflegekräfte, medizinisches Personal, Kita-Personal, Lehrer und Lehrerinnen, Juristen, Polizisten, Zugführer, Fahrpersonal im ÖPNV usw. All das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hier wird die dienstleistungsbasierte Wirtschaftsstruktur der Zukunft sichtbar, die übrigens der Dienstleistungs-Hauptstadt Berlin mittlerweile die höchsten Wachstumsraten innerhalb Deutschlands beschert.

Oder einmal so formuliert: Die wilde Globalisierung der letzten 30 Jahre kommt an ihren Endpunkt. Ein Land wie Deutschland sollte längst über einen großen ökologischen Umbau der ganzen Wirtschaft nachdenken, um das Land zukunftsfit zu machen.

Aber das scheint schier unmöglich bei so einer Besessenheit vom ewigen Wachstum, das bei einem Drittel der Gesellschaft überhaupt nicht mehr ankommt.

Dieses Drittel hat dann eher mit den stetig wachsenden Verbraucherpreisen zu tun. Die Verbraucherpreise werden weiterhin nur moderat um 1,4 % im Jahr 2019, 1,5 % im Jahr 2020 und 1,6 % im Jahr 2021 zulegen, vermuten die fünf Institute. Und sie machen sich eher Sorgen darüber, dass Finanzminister Olaf Scholz das Geld ausgeht: Die Überschüsse des Staates sind in diesem Jahr mit voraussichtlich rund 50 Mrd. Euro noch beträchtlich. Allerdings schmelzen sie bis zum Jahr 2021 auf rund 4 Mrd. Euro.

Eine Einschätzung, die wieder alle Alarmbojen in den konservativen Medien ertönen lassen wird.

Dabei verschwinden diese Gelder ja nicht. Sie fließen wieder dahin, wo sie tatsächlich etwas bewirken – in die Börsen der Untertanen: Neben der konjunkturellen Abkühlung tragen dazu, dass weiter emsig konsumiert wird, vor allem verschiedene fiskalische Maßnahmen wie Mehrleistungen bei der Rentenversicherung, Erhöhung des Kindergelds, Entlastung bei der Einkommensteuer und nicht zuletzt die teilweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags bei, so die fünf Institute. Sie belaufen sich in diesem Jahr auf rund 22 Mrd. Euro, im kommenden Jahr auf 18 Mrd. Euro und im Jahr 2021 auf voraussichtlich 23 Mrd. Euro. Damit setzt die Finanzpolitik deutliche Impulse und stützt den privaten Konsum.

Wenn man sich jetzt sogar noch auf einen vernünftigen CO2-Preis einigen kann, würde das noch mehr bewirken. Denn mit dem Klimaprogramm hat Deutschland das größte Investitionsprogramm seit dem Aufbau Ost vor der Nase. Die Krise der alten Wirtschaft wäre eigentlich die Chance, den alten Wohlfühlmodus zu verlassen und in die Zukunft wirklich zu investieren.

Aber das Wort taucht im Gutachten unserer fünf schönen Schwäne gar nicht erst auf.

Die Gemeinschaftsdiagnose wird erarbeitet vom DIW in Berlin, vom ifo Institut in München, vom IfW in Kiel, vom IWH in Halle und vom RWI in Essen.

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Es gibt 3 Kommentare

Anders gefragt: Wie sähe denn mein Leben aus, wenn das Wachstum auf einmal ein Stück rückwärts geht? Was wächst da zurück? Was kann weiter wachsen? Ist “wachsen” überhaupt noch die richtige Metapher?

“Stellt Euch vor…”

Fällt mir schwer. Sind wir nicht längst alle unreflektierte TurbokapitalistInnen unseres eigenen Leben geworden?

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