KommentarDa Leser „Sebastian“ ja im Kommentar zu unserer Meldung zur geplanten Ampel an der Hans-Driesch-Straße darauf hinwies, dass es recht polemisch ist, wenn ich ab und zu mal das Wort „Blechlawine“ benutze, hier einfach mal ein kleiner Ausflug ins Statistische. Und natürlich in die Frage, ob derartige Zuspitzungen eigentlich notwendig sind. Ich bin da – ehrlich gesagt – selbst im Zwiespalt. Aber.

Das Aber hat damit zu tun, dass ich das hier schon recht lange mache und die simple Alltagserfahrung sagt, dass Beiträge, in denen ich ganz sachlich und zurückhaltend berichte, deutlich weniger Leser/-innen finden. Wir leben in einem Umfeld, in dem permanent laute Zirkusmusik ist. Und auch unsere Leser/-innen springen auf Reizworte deutlich stärker an als auf die simple Berichterstattung.

Das ist keine gute Entwicklung. Ich weiß. Andererseits: Wir sind ja speziell. Wir wollen auch, dass manche Themen in ihrer Brisanz wirklich wahrgenommen werden – von denen, die sich über unsere Zuspitzungen ärgern genauso wie von denen, denen wir immer noch nicht kämpferisch genug sind. Ja, die gibt es auch.

Leider gelingt Aufmerksamkeit in unserer Zeit nur mit zusätzlicher Emotionalisierung. Und deswegen taucht das Wort Blechlawinen noch viel öfter in Meldungen und Statements andere Leute auf, die wir im „Melder“ einfach unredigiert veröffentlichen.

Ist natürlich die Frage: Ist das Wort angemessen, um ganz viele Autos zu bezeichnen, die auch in Leipzig den Straßenraum dominieren? Sollte ich nicht einfach nur „eine Menge Autos“ schreiben? Oder „hunderte Autos“?

Kürzlich habe ich hier das Buch „Grafiken für eine bessere Welt“ von Captain Futura besprochen. Darin gibt es eine einprägsame Grafik zur Länge der rechnerischen Autoschlangen in China, den USA, Deutschland und noch ein paar anderen Ländern. China und die USA würden es problemlos schaffen, mit ihrer „Autoschlange“ bis zum Mond und noch darüber hinaus zu kommen, wenn sie die in ihrem Land registrierten Pkw einfach Stoßstange an Stoßstange stellen würden.

Deutschland würde „nur“ 250.000 von den 385.000 Kilometern schaffen.

Aber Futura schreibt dazu einen sehr klaren Satz: „Mir fällt immer wieder auf, dass viele Menschen sich schlicht nicht vorstellen können, dass wir so etwas wie den Klimawandel wirklich verursachen können. Denn irgendwie ist da diese Wahrnehmung: Wir sind so klein, die Erde so groß.“

Da fällt doch das Handeln und Herumfahren des Einzelnen nicht so ins Gewicht, oder?

Doch viele kleine Bequemlichkeiten summieren sich zu einem großen, sehr beeindruckenden Klops.

Die meisten von uns können sich nämlich auch nicht vorstellen, was passiert, wenn ganz viele von uns dasselbe tun – sich zum Beispiel ein Auto zulegen. Oder zwei.

In Leipzig waren am 31. Dezember 2019 immerhin 230.073 Pkw registriert. Ganz offiziell, die vielen Pkw, die noch in anderen Landkreisen registriert sind, weil die Besitzer nicht ummelden wollen, sind da noch nicht dabei. Ein durchschnittliches Auto ist heute – wie die „Nordwest Zeitung“ 2018 mal meldete – 4,40 Meter lang und 1,80 Meter breit. Wenn man die 230.073 also mit diesen Zahlen alle hintereinander aufreiht, kommt man bis nach Paris.

Paris ist 957 Kilometer entfernt, die Leipziger Pkw-Schlange würde mit 1.012 Kilometern noch ein bisschen darüber hinausreichen.

Da ist das Wort „Autoschlange“ schon ein bisschen schwach.

Sie sehen: Man bekommt ein richtiges Problem mit dem richtigen Wort, wenn es um wirklich große Zahlen geht, die einfach dadurch entstehen, dass eine Menge Leute einfach ihr kleines Ding machen. Das eben kein kleines Ding ist. Ob das alle die Autobesitzer auch wirklich zwingend so machen müssen, bezweifle ich. Oft machen sie es, weil sich so besser mobil sein lässt in Leipzig.

Oder weil sie überhaupt nur so den Familienalltag hinbekommen, weil es kein vergleichbar leistungsfähiges ÖPNV-System gibt. Und das gibt es nicht, weil jahrzehntelang die Prioritäten andere waren in der deutschen Politik – aufs Auto fokussiert. Natürlich. Städte sind zum natürlichen Lebensraum des Autos geworden. Und Autofahrer sehen oft gar nicht mehr, wie sehr eine Stadt wie Leipzig zum Auto-Biotop geworden ist. Und dass 230.000 Autos nicht nur aus der Stauperspektive eine sehr, sehr große Menge sind.

Wenn man sie übrigens alle hinter- und nebeneinander parken würde, Stoßstange an Stoßstange, Wagentür an Wagentür, würden sie eine Fläche von über 1,8 Millionen Quadratmetern einnehmen. Was sie tatsächlich tun, nur halt übers ganze Stadtgebiet verteilt.

Ein Fußballfeld ist in der Regel 7.140 Quadratmeter groß. Die in Leipzig registrierten Pkw bedecken also schon ganz natürlich eine Fläche von 255 Fußballfeldern. So viele Fußballvereine gibt es in Leipzig gar nicht, von Fußballplätzen ganz zu schweigen.

Ich persönlich halte das für eine enorm große Fläche, die einfach dazu genutzt wird, die individuelle Mobilitätshilfe von einigen hunderttausenden Leipziger/-innen abzustellen.

Aber natürlich hat „Sebastian“ recht. Das ist keine Lawine. Es überrollt ja die Stadt nicht erst, sondern ist schon da. Ist also eher so eine Art Verstopfung, die auch verhindert, dass wir die Mobilitätsmöglichkeiten der Stadt anders sehen können.

Denn was würde passieren, wenn wir alle auf einmal anfangen würden, Mobilität als eine Daseinsvorsorge für alle zu betrachten und die Abwälzung der Mobilitätslasten auf den Einzelnen als die Belastung zu sehen, die sie ist? Nicht nur materiell, auch mental, sozial und fürs Klima sowieso. Also eine Stadt, in der niemand ein Auto braucht, wenn er schnell von einem Ende der Stadt zum anderen will? Also mit einem S-Bahn-System, das seinen Namen verdient, einem Straßenbahnsystem, das wirklich das ganze Stadtgebiet erschließt, Bussen, die alle Netzknoten verbinden usw. Mit einem Ticket für alle.

Ich persönlich finde, dass man die Verkehrsprobleme einer Stadt nur mit gut vernetzten öffentlichen Verkehrsmitteln für alle löst. Was übrigens auch die dem Verkehr zuzuordnenden Co2-Emissionen auf ein Zehntel senken würde. Aber das nur am Rande.

Bleibt immer noch das Problem mit dem richtigen Wort, das einem auch an der Bedarfsampel partout nicht einfallen will, wenn nicht nur zehn, sondern eher 30 bis 50 Fahrzeuge durchrauschen, bevor man die nächste Grün-Phase endlich freigeschaltet bekommt.

Klar, das wäre in diesem Fall ein Auto-Strom, jedenfalls kein Bach oder Rinnsal.

Die „Nordwest Zeitung“ vermutete 2018 ja, dass die immer breiteren Autos etwas mit dem Body-Mass-Index der Männer zu tun hat, die ja zumeist am Steuer so einer Mobilitätshilfe sitzen. Wenn die Fahrer immer mehr Übergewicht mit sich herumschleppen, werden also auch die Autos immer dicker und schwerer.

Haben wir also keine Autolawine, sondern ein krankhaftes Auto-Übergewicht, eine Mobilitäts-Adipositas? Hört sich auch gut an. Und man sieht sie auch gleich keuchend und schwerfällig aus ihren Kabinen steigen, die Piloten unserer Zeit. So betrachtet ist es natürlich eine unheimlich schwere Aufgabe, sich eine Stadt ohne fossil betriebene Mobilitätsunterstützer zu denken.

Wobei ich schon das Bild allein erschütternd finde: 255 Fußballplätze voller Autos dicht an dicht. Unterm Gesichtspunkt einer umweltfreundlichen Mobilität eigentlich ein bedrückendes Bild. Mit Worten wie Karawane, Berg oder See kommt man da nicht weit. Sie treffen es einfach nicht. Wie wäre es mit „Die Stadt ist voll“?

Denn eine Zumutung für eine Stadt sind solche Automengen auf jeden Fall. Wir sehen nur nicht mehr, wie eine Stadt ohne sie aussehen könnte. Es sind so viele, dass sie das Bild verstellen. Oder mit den Worten von Captain Futura: „Vielleicht wäre es klüger, statt einen Stau bis zum Mond zu bilden mal ernsthaft Alternativen auszuprobieren.“

Mit Betonung auf „ernsthaft“.

Frohe Weihnacht mit der neuen „Leipziger Zeitung“ oder: Träume sind dazu da, sie mit Leben zu erfüllen

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