Es ist, als wenn die Finanzkrise von 2007/08 nur ein Testlauf war. Damals wurden die strauchelnden Bankhäuser mit Milliardensummen aus den Staatshaushalten gerettet. Das Motto lautete dabei: „To big to fail“. Und das scheint Manager aller anderen Branchen geradezu auf den Gedanken gebracht zu haben, dass man das ja auch bei anderer Gelegenheit als Druckmittel gegen verängstigte Staatsregierungen anwenden kann. So wie im Augenblick, wo die Rufe nach Subventionen immer lauter werden.

Ein schrilles Lamento, das Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), am 1. September in einem Beitrag für den „Tagesspiegel“ zu sehr kritischen Worten über die sogenannte Vollkaskomentalität deutscher Konzerne gebracht hat. Man findet den Text auch im Blog von Marcel Fratzscher.

„Die Forderungen von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden nach Subventionen, Steuersenkungen und einem Industriestrompreis werden lauter. Die Rede ist von einer Deindustrialisierung und dem Niedergang des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Für viele sind die Schuldigen klar: Staat und Politik, die angeblich bei ihren Hilfen für die Wirtschaft versagen“, schreibt er da.

„Die Verantwortung liegt jedoch in der Vollkaskomentalität der deutschen Wirtschaft: Ein Teil der Unternehmen erwartet, dass der Staat sie gegen Risiken absichert, existierende Strukturen zementiert und sie notfalls durch Subventionen stützt. Diese Vollkaskomentalität ist heute die größte Gefahr für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.“

Wo sind die Gewinne des „Goldenen Jahrzehnts“?

Schon mehrfach hat der Spitzenökonom betont, dass Deutschland „nicht der kranke Mann Europas“ ist und die deutsche Wirtschaft gerade ein „goldenes Jahrzehnt“ erlebt hat, „die Unternehmen haben globale Marktanteile ausgebaut und hohe Gewinne eingefahren“.

Nur haben sie diese nicht in Zukunftstechnologien investiert. Lieber antichambrierten die Manager der großen Wirtschaftsverbände bei Wirtschafts- und Verkehrsministern und handelten „Korrekturen“ an Gesetzen aus, die ihnen ermöglichten, weiter an alten Verkaufsmodellen festzuhalten.

Die Mär von hilfreichen Steuersenkungen

Und gleichzeitig verhinderten deutsche Finanzminister, dass das Steuersystem, das in den 1990er Jahre massiv entkernt wurde, wieder repariert wurde. „Steuersenkungen“ werden auch jetzt noch als Allheilmittel für die wirtschaftliche Besserung verkauft. Obwohl genau diese Steuersenkungen in den vergangenen 20 Jahren nur für eine verschärfte Umverteilung von unten nach oben gesorgt haben – zu einem Anwachsen der armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen und einem Schrumpfen des Mittelstandes, während die Zahl der Reichen und Superreichen immer neue Rekorde erreicht.

Darüber schrieb Fratzscher am 8. September in der „Zeit“. Er scheint manchmal auf weiter Flur der einzige Ökonom zu sein, der solche Zusammenhänge noch benennt.

Denn wenn die Reichen und Reichtum Erbenden immer weniger Steuern zahlen, fehlt dem Staat logischerweise das Geld für all die versprochenen Investitionen – egal, ob für den Digitalausbau, für Krankenhäuser oder Bundesbahn.

So verliert man Wettbewerbsfähigkeit

„Die größere Verantwortung für den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und die drohende Deindustrialisierung liegt jedoch bei den Unternehmen. Viele deutsche Industriekonzerne sind in den vergangenen 20 Jahren drei große Risiken eingegangen, die sich nun rächen. Zum einen haben viele darauf gewettet, dass die ökologische und digitale Transformation erst in vielen Jahren oder in Jahrzehnten für sie relevant sein würde. Deswegen haben sie sie schlichtweg verschlafen“, schreibt Fratzscher.

Da rächt sich die Bereitschaft sämtlicher Merkel-Regierungen der vielen Jahre 2005 bis 2021, die Energiewende auf die ganz lange Bank zu schieben. Als würden andere Staaten einfach schlafen und das Thema genauso ignorieren.

Und dann ist da ja noch eine seltsame Investitionspolitik, wie Fratzscher feststellt: „Zweitens sind zahlreiche große Konzerne aberwitzig hohe Risiken mit ihren Investitionen in China oder in Russland eingegangen. Sie haben sich dadurch in eine enorme Abhängigkeit begeben. Volkswagen erzielt 40 Prozent seiner Gewinne in China, die anderen Automobilhersteller nur unwesentlich weniger. Die Chemieunternehmen – nicht die Politik – waren die treibende Kraft hinter der viel zu hohen Abhängigkeit von russischem Gas, selbst dann noch, als Putin seine Kriege und Konflikte eskaliert hat.“

Es waren vor allem die derart abhängigen Konzerne, die 2022 ihr blaues Wunder erlebten und feststellten, dass ihr Risiko-Spiel in Russland und China schiefgeht. Und dann mit Milliardensummen „gerettet“ werden mussten.

Und dazu kam, so Fratzscher: „Und als Drittes haben sich viele Unternehmen in die Abhängigkeit von hoch konzentrierten Lieferketten begeben – nicht selten mit unsicheren Partnern —, anstatt ihre Handelsbeziehungen und Lieferketten zu diversifizieren.“

Sozialismus made by Bundesregierung

Und das lenkt den Blick wieder auf die Bundesregierung: „Kaum ein Staat in der westlichen Welt hat sich in den vergangenen 70 Jahren so sehr als verlängerter Arm seiner Wirtschaft verstanden wie Deutschland. Kein Land hat in Krisenzeiten so riesige Subventionsprogramme und finanzielle Hilfen für die eigenen Unternehmen ausgerollt.“

Allein in den vergangenen 18 Monaten habe der Staat „350 Milliarden Euro an wirtschaftlichen Hilfen bereitgestellt, um vor allem die Unternehmen im Land zu stützen – auch wenn nicht alle Gelder davon abgerufen wurden.“

Vollkaskomentalität auf Seiten der Konzerne, nennt es Fratzscher kritisch. Und schreibt dann ein Wort, das konservative Politiker gern gegen andere Parteien benutzen als Totschlagkeule: Sozialismus.

„Doch die Vollkaskomentalität enthält drei grundlegende Widersprüche zur sozialen Marktwirtschaft. Zum einen tragen die weitreichenden Garantien des Staates für große Unternehmen eher Züge von Sozialismus als von Marktwirtschaft. Unternehmen haben sich daran gewöhnt und in der Krise werden ihre Rufe lauter, der Staat möge existierende Strukturen zementieren und starke Verluste verhindern“, so Fratzscher. „Das Resultat ist weniger Wettbewerb und Innovation.“

Und ein wachsender Berg von Staatsschulden. Im Grunde trifft Fratzscher den Kern der neoliberalen Wirtschaftslehre, wenn er schreibt: „Manche Unternehmen und Verbände fordern Schutz und Wirtschaftshilfen vom Staat, wollen jedoch auch in guten Zeiten für die damit verbundenen Kosten und steigenden Staatsschulden nicht aufkommen. Gerade in der Wirtschaft hat sich das Narrativ eines übergriffigen Staates und einer viel zu hohen Steuerbelastung durchgesetzt: Deutschland sei ein Hochsteuerland und der Staat müsse die Abgaben für Unternehmen senken.“

Sein Fazit: „Das Klagen über einen zu großen Sozialstaat und zu viel Umverteilung von Reich zu Arm ist ein weiteres populäres, aber falsches Narrativ. Die Vollkaskomentalität der Wirtschaft führt zu einer Umverteilung von Risiken und Kosten von Unternehmen zu Bürgern und von Reich zu Arm.“

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar