Knapp zwei Jahre nach der umstrittenen Bürgergeldreform plant die Koalition eine „Neue Grundsicherung“ mit beachtlichen Verschärfungen. Dabei hat es bisher noch keine umfassende wissenschaftliche Evaluierung des Bürgergeldes gegeben und Bürgergeldbeziehende selbst sind in der Debatte kaum gehört worden. Der Verein Sanktionsfrei hat deshalb über das Umfrageinstitut Verian eine Umfrage unter 1.014 Bürgergeldbeziehenden durchgeführt. Die Ergebnisse lassen Betroffene selbst zu Wort kommen und zeichnen ein drastisches Bild von täglichem Verzicht, psychischer Belastung und geringen Erwerbsaussichten.

„Über die Hälfte der Eltern müssen regelmäßig auf Essen verzichten, damit ihre Kinder satt werden. Da läuft etwas grundlegend falsch. Statt das zu ändern, plant die Politik neue Verschärfungen beim Bürgergeld und diskutiert immer noch darüber, ob der Regelsatz zu hoch ist“, sagt Helena Steinhaus, Vorstand von Sanktionsfrei.

Gemeinsam mit Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Thomas Wasilewski, Bürgergeldbeziehender und Ehrenamtlicher bei der Tafel, stellte sie die Studie am Montagmorgen, dem 23. Juni, in der Bundespressekonferenz vor.

Die wesentlichen Ergebnisse

1: Der Regelsatz reicht nicht für das Nötigste

Der Regelsatz von monatlich 563 € reicht laut großer Mehrheit der Befragten (72 %) nicht aus, um ein würdevolles Leben zu führen. Selbst Grundbedürfnisse werden nicht ausreichend erfüllt: Nur jeder Zweite gibt an, dass in ihrem Haushalt alle satt werden; insbesondere Eltern verzichten zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen (54 %). 28 % machen sich sogar Sorgen, obdachlos zu werden.

2: Kaum Hoffnung auf eine Stelle, die den Bürgergeldbezug beenden kann

Der Wunsch, vom Bürgergeld unabhängig zu werden, ist stark ausgeprägt (74 %). Jedoch sind nur wenige zuversichtlich, dass sie auch eine Stelle finden werden, mit der sie den Bürgergeldbezug beenden können (26 %). Neben Hindernissen auf der individuellen und strukturellen Ebene werden die Jobcenter bei der Arbeitssuche nur als bedingt hilfreich wahrgenommen.

Wie man sich mit dem Regelsatz ernährt. Grafik: Sanktionsfrei e.V.
Wie man sich mit dem Regelsatz ernährt. Grafik: Sanktionsfrei e.V.

3: Stigma und Scham sind sehr präsent, ebenso Angst vor politischen Verschärfungen

Gesellschaftliches Stigma und Scham sind unter den Befragten sehr präsent. Nur 12 % fühlen sich der Gesellschaft zugehörig und 42 % geben an, dass sie sich schämen, Bürgergeld zu beziehen. Die Mehrheit der Befragten (72 %) hat Angst vor weiteren Verschärfungen im Bürgergeld: Insbesondere die mögliche Wiedereinführung eines vollständigen Leistungsentzugs wird von den Befragten als akut existenzgefährdend beschrieben.

Ein Leben in ständiger Unsicherheit

Auch Thomas Wasilewski, der mit seiner Familie Bürgergeld bezieht, übt massive Kritik am jetzigen Bürgergeld-System: „Unser Leben findet in ständiger Unsicherheit statt. Es reicht kaum für die nötigsten Nahrungsmittel und auch der Schulalltag ist dadurch für unsere Kinder besonders schwer. Diese Stimme im Kopf ist immer präsent: Wie soll es morgen weitergehen? Das zerfrisst die Seele. Es ist unerträglich zu erleben, wie meine Söhne leiden, weil ihnen das Allernötigste fehlt.“

Marcel Fratzscher (DIW) betonte: „Das Bürgergeld muss so ausgestaltet sein, dass es die Teilhabe aller betroffenen Menschen gewährleistet. Eine Kürzung der Leistungen ist kontraproduktiv, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für Unternehmen, Gesellschaft und Sozialstaat, da dies die Arbeitsaufnahme erschweren und nicht verbessern würde. Politik und Wirtschaft müssen mehr und nicht weniger in Menschen mit Bürgergeld investieren.“

Angst und Schanm bei Thema Bürgergeld. Grafik: Sanktionsfrei e.V.
Angst und Scham bei Thema Bürgergeld. Grafik: Sanktionsfrei e.V.

Sanktionsfrei fordert deshalb, die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und die geplanten Verschärfungen zu stoppen. Außerdem einen bedarfsdeckenden Regelsatz von 813 €, die Abschaffung von Leistungsminderungen (Sanktionen) und Qualifizierung und Weiterbildung statt Vermittlungsvorrang. Statt den Fokus stets auf angeblich mangelnde Arbeitsbereitschaft zu richten, muss die Frage gestellt werden, inwiefern es für Personen im Bürgergeld überhaupt ausreichend bedarfsdeckende Stellen gibt.

Für die Umfrage wurden 1.014 Bürgergeldbeziehende zwischen 18 und 67 Jahren über ein Online-Access-Panel befragt. Durch eine abschließende soziodemografische Gewichtung auf Basis der amtlichen Statistiken sind die Daten geeignet, um Aussagen über die Grundgesamtheit der Bürgergeldbeziehenden in Deutschland zu treffen.

Die gesamte Studie und einen Dreiseiter mit den wichtigsten Informationen und Ergebnissen findet man hier. 

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