Zwei Wortmeldungen flatterten am Freitag, 16. Oktober, ins Postfach - eine aus der Linksfraktion, eine aus der Grünen-Fraktion. Beide nahmen sie den sächsischen SPD-Vorsitzenden Martin Dulig aufs Korn für etwas, was er im Interview für die LVZ am 16. Oktober gesagt hatte. Eine "Atempause" hatte der stellvertretende Ministerpräsident in der Bewältigung der Flüchtlingspolitik gefordert. Aber warum bekommt ausgerechnet Dulig die Prügel, wenn die regierende CDU auf derselben Zeitungseite ganz andere Töne anschlägt?

“Wir müssen schnell einen Riegel finden, der diesen unbegrenzten und unkontrollierten Zustrom nach Deutschland eindämmt”, wird dabei der CDU-Fraktionsvorsitzende Frank Kupfer zitiert, der auch gleich noch forderte: “Wir benötigen eine europäische Grenzpolizei, was bedeutet, dass zum Beispiel die EU-Außengrenze in Spanien auch von Schweden und Deutschen bewacht wird. (…) Sie muss in der Lage sein, die Grenze auch wirklich dichtzumachen.”

Es ist schon erstaunlich: Lesen Grüne und Linke die Artikel zur hartgesottenen sächsischen CDU gar nicht mehr, weil sie gar nichts anderes mehr erwarten als solche Töne? Oder reagieren sie eigentlich auf die harten, aber völlig sinnfreien Forderungen der CDU-Hardliner Kupfer und Alexander Krauß, nennen aber lieber den deutlich nachdenklicheren Dulig, weil der überhaupt noch sachlich über das Thema spricht?

Geäußert hat Dulig den Satz mit der Atempause tatsächlich. Aber die eigentliche Fehlleistung hat in diesem Fall der Interviewer Dieter Wonka für die LVZ und die DNN vollbracht: Er hat Fragen gestellt, bei denen dem Bundesvorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, ganz bestimmt die Hutschnur geplatzt wäre. Das Vokabular spricht für sich.

Das ging gleich mit der ersten Frage los: “Viele Bürger erwarten eine Eindämmung der Zuwanderungswelle. Ist das Boot voll?”

Das war die Frage, auf die Dulig dann antwortete: “Wir sind rein organisatorisch an der Belastungsgrenze. Ich weiß nicht, ob das Boot voll ist, richtig ist aber: Wir schaffen es zurzeit nicht mehr. Die große Integrationsaufgabe kommt ja noch auf uns zu. Deshalb brauchen wir jetzt eine Atempause, um uns zu organisieren.”

Dabei forderte er im ganzen Interview nicht das, was im darüber angeordneten Artikel als Forderung von Kupfer und Krauß zu lesen war – von dichtgemachten Grenzen und Obergrenzen bei den Flüchtlingen, die nach Sachsen kommen. Und tatsächlich lesen sich die Äußerungen des Grünen-Fraktionsvorsitzenden Volkmar Zschocke und des Linken-Fraktionsvorsitzenden Rico Gebhardt eher so, als meinten sie die Muskelspiele Kupfers und nicht die Duligschen Überlegungen.

Es ist schon erstaunlich, dass Dulig überhaupt auf solche Fragen von Dieter Wonka geantwortet hat wie diese: “Ihre Jusos nennen Sie deshalb ‘zynisch’. Finden Sie solche ‘Gutmenschen’ heimlich zum Kotzen?”

Das Wort Gutmenschen hat die Zeitung zwar in Anführungszeichen gesetzt, aber die Verwendung dieses Begriffs aus der rechtslastigen Sprachkultur verrät so einiges über das Denken des Fragestellers.

Die Frage bezog sich auf die Kritik der sächsischen Juso-Vorsitzenden Katharina Schenk an einer Äußerung Duligs in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit: “Die Äußerungen Duligs sind absolut unhaltbar. Das Reden von ‘Flüchtlingswellen’, die gestoppt werden müssten, schürt Ängste und ist Wasser auf die Mühlen der Rassistinnen und Rassisten in Sachsen”, hatte sie geschrieben. Und die Genossen dürften sich gewundert haben: Die sächsische SPD hat die Wortmeldung auch noch in ihren Newsletter aufgenommen. Heißt: Sie hat sie als kritischen Standpunkt akzeptiert. Was auch Dulig jetzt im LVZ-Interview tut.

Und wer weiterliest, merkt, dass Dulig von dicht gemachten Grenzen und den von CDU und CSU gefeierten Transitzonen gar nichts hält.

Aber Wonka spielte trotzdem weiter die nationale Karte: “Nicht wenige meinen, der Staat müsse sich vor dem Verlust der nationalen Identität angesichts der vielen Flüchtlinge schützen. Wie?”

Da dürften sich eigentlich auch bei Grünen und Linken die Kopfschmerzen eingestellt haben: Von welcher “nationalen Identität” redet der Mann eigentlich? War der zu oft bei Pegida?

Die Antwort, die ihm Dulig gibt, ist deutlich: “Indem der Staat keine Angst davor hat, dass durch angeblich zu viele Flüchtlinge seine nationale Identität verloren geht.” Er spricht sogar von einer Riesenchance für Ostdeutschland, fordert aber trotzdem eine “Eindämmung des Flüchtlingsstroms”, was einfach seltsam wirkt, wenn er die rigiden Mittel, die die CDU-Koalitionäre vorschlagen, nicht für sinnvoll hält.

Insofern ist die Kritik von Volkmar Zschocke an dieser Stelle berechtigt: “Die Forderung, den Flüchtlingsstrom einzudämmen, mag gerade populär sein. Aber ohne funktionierende, menschenwürdige und rechtsstaatliche Lösungen vorzuschlagen, verstärkt Dulig mit seiner Forderung Ängste und schafft kein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates.”

Denn Dulig sagt es ja selbst: Die eigentliche Arbeit beginnt erst. Die Schaffung von Unterkünften ist nur der Anfang (und bei dem hat Sachsen gründlich die Zeit vertrieft), und das merkt Dulig sogar an, wenn auch indirekt, wenn er sagt: “Erstens müssen Staat und Verwaltung wieder handlungsfähig werden.” Das könnte man eine vorsichtige, aber deutliche Kritik nennen an den verantwortlichen Ministern im Dresdner Kabinett: Da hat man schlicht zu spät und zu unkoordiniert reagiert und dabei “Handlungsfähigkeit eingebüßt”. Das ist harter Tobak, fällt aber nicht gleich auf.

“Zweitens brauchen wir eine europäische Flüchtlingspolitik”, sagt Dulig noch, obwohl auch er sehen muss, dass Europa bei der zweiten großen Gemeinschaftsaufgabe, die die EU zu bewältigen hat, heillos zerfällt. Man fragt sich schon: Warum geht eigentlich die Sozialdemokratie nicht voran und arbeitet an Reformvorschlägen für eine EU, die ihren Namen verdient? Das wäre das Thema der Stunde.

Und am Ende des Interviews deutet Dulig auch noch an, was er von den von Wonka so eifrig zitierten “Nicht wenige” hält: Gar nichts. Nicht die Flüchtlinge sind für ihn das Unzumutbare, sondern “Menschen (die sich) das Recht herausnehmen, andere mit Hass und Verachtung und Gewaltandrohung zu verfolgen.” Die haben, so stellt er fest, Sachsen schon massiven wirtschaftlichen Schaden zugefügt und eine Stimmung erzeugt, die auch “internationale Wissenschaftler und Fachkräfte” davon abhält, nach Sachsen zu kommen. Dulig: “Die Grenze des Zumutbaren für den Staat ist mit Pegida längst überschritten. Jetzt ist die Staatsanwaltschaft dran.”

Man kann Martin Dulig dafür kritisieren, dass er die Überforderungsrhetorik der Union übernommen hat und nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingsfrage verlangt, die die EU im augenblicklichen Zustand überhaupt nicht leisten kann. Die “Atempause”, die er sich wünscht, wird es nicht geben, auch wenn sie die sächsische Staatsregierung augenscheinlich brauchen könnte, um wieder “handlungsfähig” zu werden.

Aber er unterscheidet sich deutlich von dem, was die Kampfgenossen aus der CDU-Fraktion fordern und äußern.

Die Grünen-Wortmeldung zum Dulig-Interview

Duligs “Atempause”/Asyl – Grüne: Menschenwürdige und rechtsstaatliche Lösungen nötig

Zschocke: Wenn Dulig seine Forderung nicht untersetzt, verstärkt er Ängste und schafft kein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates

Dresden. SPD-Chef und Wirtschaftsminister Martin Dulig hat im Interview mit der LVZ/DNN erneut eine “Atempause” bei der Aufnahme von Flüchtlingen verlangt.

Dazu erklärt Volkmar Zschocke, Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag:

“Martin Duligs Forderung ist die gleiche wie vor 14 Tagen bei der Feierstunde zum 3. Oktober im Sächsischen Landtag. Erneut untersetzt er seine Überlegung nicht inhaltlich. Wie genau soll diese “Atempause” aussehen?”

“Die Forderung, den Flüchtlingsstrom einzudämmen, mag gerade populär sein. Aber ohne funktionierende, menschenwürdige und rechtsstaatliche Lösungen vorzuschlagen, verstärkt Dulig mit seiner Forderung Ängste und schafft kein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates.”

“Ich halte zudem die Aussage von Martin Dulig vor der Demonstration ‘Herz statt Hetze’ am Montag in Dresden für das falsche Signal.”

“Als Vize-Regierungschef sollte sich Dulig lieber darum kümmern, dass die Landesdirektion die lokalen Verantwortungsträger angemessen über die Erstaufnahmen und Zuweisungen informiert.”

Die Linke-Wortmeldung zum Dulig-Interview

Gebhardt: Dulig gibt den Seehofer – unklare und unrealistische Forderung nur Wasser auf Mühlen von AfD und Pegida

Zu den Interview-Aussagen von Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) zur Flüchtlingspolitik – „wir schaffen es zurzeit nicht mehr“, „brauchen wir jetzt eine Atempause“ – erklärt Rico Gebhardt, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag:

Martin Dulig gibt den Seehofer. Er kann nun jeden Tag die Gebetsmühle „Flüchtlings-Stopp“ mit bedienen wie schon der bayerische Ministerpräsident, es bringt nur nichts. Sondern richtet schrecklichen politischen Flurschaden an. Man kann doch nicht die aggressive Tonlage von Pegida kritisieren und gleichzeitig deren Kernforderung übernehmen. Das ist schizophren und führt politisch ins Aus.

Seehofer hat Ungarns rechtsnationalistische Abschottungspolitik unter Orbán gelobt – aber der monströse Zaun an der ungarischen EU-Grenze hält offenkundig keinen einzigen Flüchtling vom Weg nach Deutschland ab. Der von Dulig konstruierte Gegensatz zwischen „Herz“ und „Verstand“ in der Flüchtlingspolitik ist grober Unfug. Das „Dublin“-Abkommen, auf das nun von Dulig über Kupfer bis Seehofer viele hoffen, war schon vor Angela Merkels humanitären Gesten gegenüber den Flüchtlingen faktisch tot: Die überforderten EU-Grenzländer haben Hunderttausende unregistriert weiter ziehen lassen, und die „Dublin-Verfahren“ haben dann in Deutschland ohnehin schon überlange Asylverfahren schier endlos in die Länge gezogen. Zumal das „Dublin“-Abkommen immer zum Ziel hat, die Geflüchteten an der Außengrenze der EU zu belassen. Die Solidarität der Mitteleuropäer bei der Bewältigung der Vor-Ort-Probleme hielt sich in Grenzen. Nun rächt es sich bitter, dass in der Europäischen Union seit ihrer Gründung von Solidarität nie ernsthaft die Rede war.

Schon den „Tag der deutschen Einheit“, den es ohne den Mauerfall 1989 und vorher die Öffnung der ungarischen Grenze so nicht gegeben hätte, hatte Martin Dulig leider schon zu einem solchen Ruf nach Grenzschließung missbraucht. Wie schon am 3. Oktober erfahren wir auch am 15. Oktober von ihm nicht, wie er sich das praktisch vorstellt. Die Bundeskanzlerin sagt: Die Abschottung kann nicht funktionieren, und deshalb müssen wir die Flüchtlingsaufnahme schaffen. Dulig dreht das um und proklamiert: Wir schaffen es nicht, und deshalb muss die Abschottung irgendwie gemacht werden. Es ist aber verantwortungslos, unrealistische Forderungen zu erheben, deren Nichteinlösung dann nur dazu führt, dass die AfD in Sachsen die SPD überholen wird.

Ich schätze Martin Dulig seit langem persönlich und bedauere umso mehr seinen politisch unnötigen Schwenk. Bleibt er dabei, schaffen wir den notwendigen Politikwechsel in Sachsen nicht. Dann wird es 2019 eine CDU/AfD-Koalition geben.  Was Martin Dulig zurzeit macht, ist Wasser auf die Mühlen von AfD und Pegida. Besonders peinlich: Sachsens CDU (!)-Ministerpräsident Tillich sagt laut Mitteilung der Staatskanzlei heute vor dem Bundesrat in einer Rede, zu der ich sonst viel Widerspruch habe: „Und wir schaffen es derzeit.“ Was ist das für eine SPD, die in einer Schlüsselfrage sozialer Integration hinter die CDU zurückfällt?!

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