Chemnitzer, die sich missverstanden fรผhlen, Bjรถrn Hรถcke, der vonseiten der AfD noch ein wenig Kapital aus dem gewaltsamen Tod eines 35 Jahre jungen Mannes schlagen mรถchte, rechte Umtriebe in der Erzgebirgsstadt eine Woche in den Medien des Landes. Und eine Polizei Sachsen, welche nach dem Versagen am Montag dieser Woche zum groรŸen Showdown rรผsten zu wollen scheint, ein Bundesligaspiel absagt und um Unterstรผtzung von Bundes- und Landespolizeien bat. Dies alles und noch einiges Seltsames mehr sind die Vorzeichen des heutigen 1. September 2018 fรผr eine Reise nach und durch Chemnitz im angeblichen Ausnahmezustand.

23 Uhr : Zurรผck zu Hause und ein erstes Fazit + weitere Bilder des Tages

Wรคhrend es noch immer Berichte รผber eine langsame und zรคhe PolizeimaรŸnahme gegen Gegendemonstranten (Anzahl etwa 300) in Chemnitz gibt und einige davon mittlerweile sogar รœbernachtungsmรถglichkeiten via Twitter unter dem Hastag #c0109 in Chemnitz suchen, ist ein erstes Fazit dennoch mรถglich.

Nein, der Slogan โ€œWir sind mehrโ€ passt vielleicht generell auf Deutschland, doch nicht angesichts der Mengenverhรคltnisse in Chemnitz.

Eingedenk der Unmรถglichkeit einer genauen Zahlenangabe, da viele Protestaktionen gegen die rechte Demonstration aus AfD, Pegida und โ€œPro Chemnitzโ€ auch an diversen Kreuzungen stattfanden und sich auch die groรŸen Plรคtze dieses Mal schlecht schรคtzen lieรŸen, darf man doch von einem Maximalverhรคltnis 50:50 ausgehen. Weniger Menschen brachten die Gegenproteste aber auch nicht auf, die Mengen wirkten letztlich รคhnlich und lagen jeweils bei einigen Tausend. Polizei und andere Journalisten schรคtzten je 4.500 bis 5.000 pro โ€œSeiteโ€.

Dennoch sieht es wohl so aus, als ob die erste grรถรŸere Protestaktion vor dem Konzert am kommenden Montag durchaus ein Zeichen setzen konnte. Nicht zuletzt deshalb, weil es dieses Mal der zusammengelegten Demonstration aus AfD, Pegida und Pro Chemnitz eben nicht wie noch am Montag gelang, ungehindert durch Chemnitz zu ziehen und โ€œAuslรคnder rausโ€ oder รคhnliche Naziparolen zu rufen.

Die friedliche Gegen-Blockade an der BahnhofsstraรŸe und die buntere Demo waren so groรŸ, dass die Polizei die Rรคumung abblies und anschlieรŸend, etwa 700 Meter entfernt, alle Hรคnde voll auf dem Platz an der StraรŸe der Nationen am Karl-Marx-Denkmal zu tun bekam.

Hier war man aufgrund des Kundgebungscharakters der Veranstaltung frustriert und man muss auch sagen, nicht wenige bereits gegen 19 Uhr alkoholisiert bis betrunken. Die Mischung aus Neonazis und rechtsradikalen Hooligans war der vom Montag und Sonntag nicht unรคhnlich, doch einige Zeit verlief es hier noch bis kurz nach 19 Uhr weitgehend friedlich โ€“ sieht man von einigen Parolen ab, die โ€“ wie โ€œNationaler Sozialismusโ€ โ€“ klar in die rechtsextreme NS-Ecke spielten.

Bis die Polizei die beendete Veranstaltung mit zwei Wasserwerfern und Rรคumpanzern allmรคhlich auflรถsen wollte. Diese wurden umgehend attackiert, einige setzten sich auf die Schaufeln der Fahrzeuge, andere bewarfen die Wasserwerfer laut Durchsagen der Beamten umgehend mit Flaschen und anderen Gegenstรคnden. Schnell wurde deutlich, dass nun die Polizeibeamten die Gegner waren, hier und da kam es in dem zeitweiligen Gerangel auch zu Attacken auf Journalisten.

Erneut wurde eines deutlich: auf dieser rechtsnationalen Seite Sachsens ist man lรคngst der Meinung, sein Gedankengut zur Not gewaltsam durchsetzen zu kรถnnen. Da nรผtzt auch der gestohlene Slogan der friedlichen Revolution nichts. โ€œWir sind das Volkโ€ ist und blieb auch in Chemnitz eine Parole der Ab- und Ausgrenzung aller anderen Menschen.

Das Fazit der Polizei am 1. September (Stand 22:30 Uhr) hier online.

Wackelbilder vom Beginn der Konfrontation am โ€œNischelโ€ ab ca. 19 Uhr

19:30 Uhr: Die AfD/Pro Chemnitz Demo sucht die Konfrontation mit der Polizei

17:30 Uhr Viele 1.000, erste Schรคtzungen mindestens 5.000 erwarten den โ€žTrauermarschโ€œ von AfD und Pro Chemnitz an der BahnhofstraรŸe. Immer wieder erschallen Rufe in Richtung Polizei โ€žWo, wo, wo wart Ihr am Montag?โ€œ.

Video von der Ankunft der Leipziger in Chemnitz bis zur Blockade auf der BahnhofsstraรŸe

Am Ende besteht die Blockade, die Polizei umfรคhrt sie und die AfD/Pegida/Pro Chemnitz-Demo kann nicht laufen. Die Polizei begrรผndet den unterlassenen Einsatz gegen die Gegendemonstranten damit, dass eine Rรคumung aufgrund der Massen unverhรคltnismรครŸig gewesen sei. Video: L-IZ.de

Auf der Bรผhne spielt derzeit Madsen. Auf der StraรŸe hat die Gegendemonstration eine lange Reihe von Grundgesetz-Bรผchern aufgebaut.

Ein Kurz-Interview mit der Grรผnen Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock

Am Rande und direkt zum Start der Demonstrationen ein kurzer Wortwechsel mit Annalena Baerbock (Grรผne) zum Stand vor Ort und der Frage: Was machen die Grรผnen in Chemnitz an diesem Tag? Video: L-IZ.de

15:45 Uhr: Zwei volle Zรผge haben sich seit 14:20 Uhr auf den Weg nach Chemnitz gemacht, die Menschen stehen teils an den Scheiben gepresst. Im zweiten Zug sind bereits Begleiter der Polizei an Bord, es scheint heute tatsรคchlich ein GroรŸaufgebot in Chemnitz zu geben.

Bereits 15:25 Uhr sollen sich mehrere 1.000 Gegendemonstranten in Chemnitz befinden, als der erste Zug aus Leipzig eintraf.

Nein, es wird kein โ€žLivetickerโ€œ im eigentlichen Sinne, eine Sammlung von Impressionen in Bildern, kurzen Eindrucksschilderungen und vielleicht ein paar Videos schon eher. Denn dem Letzten sollte in der vergangenen Woche klargeworden sein, dass etwas verrutscht ist. Auch, als der Spiegel โ€žSachsenโ€œ zum Titelthema machte, alle Talkshows sich mit eilig zusammengeholten Politikern aus dem Osten wappneten (viele รผberhaupt mal medial zu sehen ๐Ÿ˜‰ und vor allem Worte wie โ€žHetzjagdโ€œ durchs Land gingen, kann man den 1. September 2018 eigentlich nur nรผchtern und hier und da sicher auch mit etwas routinierter โ€žBelustigungโ€œ betrachten. Vor allem, wenn es um die รผblichen Reflexe geht.

Leipzig Hauptbahnhof โ€“ 14:20 Uhr, nachdem der restlos รผberfรผllte Regionalzug abgefahren ist. Nun heiรŸt es auf den nรคchsten warten. Foto: Michael Freitag
Leipzig Hauptbahnhof โ€“ 14:20 Uhr, nachdem der restlos รผberfรผllte Regionalzug abgefahren ist. Nun heiรŸt es auf den nรคchsten warten. Foto: Michael Freitag

Einer: das braune Chemnitz. Ebenso unwahr wie โ€žChemnitz hat kein Problemโ€œ. Eine Stadt, die offenbar auch aufgrund von รœberalterung der Gesellschaft CDU-Dauerwahlsieger sah und kein eigenes antifaschistisches Immunsystem hat, hat ein Problem. Es heiรŸt Angst; vor Auslรคndern, vor den โ€ždunklen Eckenโ€œ in der Stadt und wie mir ein Redaktionskollege (aus Chemnitz) glaubhaft versicherte, รผberhaupt vor Verรคnderungen und jungen Menschen, die โ€žsich nicht benehmen kรถnnenโ€œ. Zucht und Ordnung in einer Stadt, die eben nicht wie Leipzig im Knotenpunkt eines GroรŸflughafens liegt, keine bekannte Party und Kneipenkultur aufweist und sich hier und da mit Hochkultur zu prรคsentieren sucht.

Eine Stadt, in der die Bรผrgersteige ab dem frรผhen Abend als โ€žhochgeklapptโ€œ gelten โ€“ Menschen auf den StraรŸen werden dann zur Mangelerscheinung.

Ein weiterer Reflex wohl: Nun aufzustehen gegen den drohenden Zivilisationsbruch von rechter Seite, die HitlergrรผรŸe und die offenbar schon vollkommen normale Stellung der AfD an der Seite von Pegida und Co.. Heute unter dem Slogan โ€žHerz statt Hetzeโ€œ und viele Organisationen haben versprochen zu kommen.

Apropos AfD. Der Wahlkampf um die Landtagswahlen in Thรผringen und Sachsen (2019) hat natรผrlich auch begonnen. Und โ€“ was entsetzen darf und muss โ€“ die Zustimmungswerte einer Partei, die immer wieder mit rassistischen ร„uรŸerungen und wenig Programm von sich reden macht โ€“ steigen weiter.

Machen wir uns also auf den Weg. Es ist nun 14:20 Uhr. Die Reise nach Chemnitz kann beginnen. 16 Uhr soll es etwa starten โ€“ der โ€žTrauermarschโ€œ der AfD. Und auch an anderen Orten geht es dann los, wie ab etwa 15 Uhr an der Johanneskirche, wo sich die Gegenproteste versammeln werden.

Reise, Reise (2): Eine etwas andere Sicht auf eine Demo-Fahrt nach Chemnitz

Reise, Reise (2): Eine etwas andere Sicht auf eine Demo-Fahrt nach Chemnitz

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