Es gehört schon einiger Starrsinn dazu, ein mögliches Bürgerbeteiligungsprojekt für 1,1 Milliarden Euro gegen die Wand zu fahren. Und das ausgerechnet in Sachsen, wo die politische Stimmung sowieso schon kriselt und etliche Bürger das Gefühl haben, nur „Bürger 2. Klasse“ zu sein. Also nicht mitreden zu dürfen, wenn es um Entscheidungen geht, die sie selbst betreffen. So wie der Strukturwandel beim Kohleausstieg. Es hätte ein richtig großes Bürger-Mitmach-Projekt werden können. Aber die Betroffenen sind nicht gefragt. Das Geld verteilen andere.

Oder haben es längst verteilt, wie Marco Böhme, Sprecher der Linksfraktion für Klimaschutz im Sächsischen Landtag, vermutet.

„Uns liegen Informationen der Sächsischen Agentur für Strukturentwicklung (SAS) vor, wonach laut dem Sächsischen Staatsministerium für Regionalentwicklung (SMR) ‚die verfügbaren Haushaltsmittel für die erste Förderperiode (2020 bis 2026) nach RL InvKG vollständig belegt sind‘. Im Klartext heißt das: Für diese erste Förderperiode können keine weiteren Projektanträge in den Regionalen Begleitausschüssen für das Mitteldeutsche und das Lausitzer Revier gestellt werden. Davor hatten wir gewarnt.1,1 Milliarden Euro stehen in dieser ersten Förderperiode zur Verfügung. Was wäre eigentlich passiert, wenn man tatsächlich die Bewohner der Bergbauregionen einbezogen hätte bei der Auswahl der Projekte, die davon hätten finanziert werden können? Ihnen also ein echtes Mitspracherecht eingeräumt hätte von der Ideenfindung bis zur endgültigen Abstimmung? Etwas, was problemlos auch in zwei Jahren hätte organisiert werden können, zwei Jahre, in denen jetzt ganz andere Instanzen ohne jegliche Bürgerbeteiligung über die Verteilung der Mittel entschieden haben.

Und das sind nicht einmal nur die Kommunen, die in regionalen Begleitausschüssen zumindest gemeinsam jene – von den Kommunen vorgeschlagenen – Projekte auswählen, die tatsächlich eine realistische Chance auf Umsetzung haben.

Doch augenscheinlich ist – noch vor Abschluss der ersten Entscheidungsrunde – das zu verteilende Geld alle. Jedenfalls interpretiert das Marco Böhme so.

„Für Kommunen, die in den nächsten vier Jahren Strukturwandelprojekte umsetzen wollten, ist dies ein Schlag ins Gesicht. Auch die Mitglieder der Regionalen Begleitausschüsse dürften sich fragen, worüber sie in den nächsten Jahren entscheiden sollen, wenn es kein Geld zu verteilen gibt“, sagt Marco Böhme.

„Dies ist das Ergebnis der gescheiterten Strukturwandelpolitik der sächsischen Staatsregierung: Projekte nach dem Windhund-Prinzip verteilen, ohne Zeit für ausreichende Projektentwicklung und die Überprüfung einzuräumen, ob diese Projekte sinnvoll zum Strukturwandel beitragen. Hinzu kommen teure Landesprojekte wie der Umzug der Landesuntersuchungsanstalt nach Bischofswerda, durch welche die Töpfe für die Kommunen geleert wurden.“

Mal will der Bund aus den Strukturwandelmitteln die Elektrifizierung der Strecke Leipzig – Chemnitz finanzieren, mal will die Landesregierung damit den Landeshaushalt entlasten. Das Bild ist überall dasselbe: Die Betroffenen werden nicht einmal gefragt. Was natürlich die Frage aufwirft, welche Akzeptanz die Strukturprojekte dann überhaupt bekommen.

Oder ob sie doch wieder nur wie UFOs betrachtet werden, die in der nun vom Bergbau befreiten Landschaft stehen, aber wenig für die Stabilisierung der lokalen Ökonomie beitragen. Wird die Abwanderung aus diesen Regionen dann erst recht beginnen? Eine Frage, die zu Recht im Raum steht. Wenn sie erst einmal in Gang gesetzt ist, ist es zu spät umzusteuern.

„Der Strukturwandel kann nur gelingen, wenn die Akteure vor Ort genug Zeit für die Entwicklung von Projekten bekommen. Nur dann kann die Bevölkerung beteiligt werden, nur dann kann sichergestellt werden, dass die Gelder für Projekte ausgegeben werden, die einen sinnvollen und nachhaltigen Beitrag zum Strukturwandel leisten“, sagt etwas, was eigentlich seit Anfang an mitbedacht hätte werden müssen. „Wir fordern einen Dialog auf Augenhöhe zwischen der Staatsregierung und den betroffenen Kommunen, die über den Strukturwandel entscheiden!“

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