LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 41Diese Geschichte wirft mehr Fragen auf, als dass sie Antworten gibt. Selbst André Schmidt, von dem sie erzählt, wartet auf Antworten, seit zwei Jahren – obwohl diese Sache schon über 30 Jahre her ist. „Vor zwei Jahren saß ich abends auf meiner Couch und schaute eine Dokumentation auf Phoenix. Es ging um Doping im DDR-Leistungssport“, so Schmidt. Im TV: Britta Baldusch, Maritta Koch, Ines Geipel und Udo Beyer erzählen von Leistungsdruck und von Doping.

„Sie sprachen auch davon, was sie heute so machen und vom Präparat Dynvital, was sie quasi beiläufig nach dem Training eingenommen haben – und dass sie nun unter den Spätfolgen litten.“ Schmidt steht förmlich auf seiner Couch, hat plötzlich seine eigenen Bilder im Kopf. „Dynvital gab es auch bei uns.“

Uns. Das heißt in seiner Nachwuchsmannschaft beim 1. FC Lok. Eine Club-Mannschaft, die höchsten Ansprüchen genügen und zukünftige Nationalspieler hervorbringen soll. Schmidt kickt von 1985 bis 1987 im Alter von 12 bis 14 Jahren in Probstheida. Seine Trainer heißen Roland Freier und Club-Legende Wolfram Löwe.

Für die große Karriere reicht es für Schmidt nie, er zieht irgendwann nach Freiberg mit seinen Eltern und kehrt für die Saison 1991/92 zum VfB zurück, bestreitet aber nie ein Spiel und trainiert anschließend noch ein paar Monate beim FC Sachsen. Später macht er sich als Torwarttrainer selbstständig, arbeitet er unter anderem für den FC Sachsen, den Karlsruher SC und den Badischen Fußballverband. Dann wird er krank.

„Seit knapp vier Jahren habe ich Ödeme auf der Haut, deren Ursache sich bisher niemand erschließen konnte“, so der mittlerweile 44-Jährige. „Die sind teilweise ziemlich entstellend, so dass ich nicht arbeiten kann. Vor Jugendlichen kann ich so nicht auftreten.“ Mittlerweile ist Schmidt Mentalcoach für die Torhüter im Nachwuchsleistungszentrum des SV Sandhausen.

Die bisher konsultierten Ärzte haben nicht mal im Ansatz die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es Langzeitfolgen von Doping sein könnten. „Da geht es erst um Allergien und dann darum, Lebensmittel wegzulassen. Als ich das Thema Doping angesprochen habe, wurde ich auch nicht gerade beglückwünscht. Das will ja keiner wissen“, so Schmidt.

Ein „Vitamin-Koffein-Getränk“

Vor Turnieren und immer auswärts sollten seine Mannschaftskameraden und er etwas aus dem grünen Bottich mit der orangig riechenden Substanz nehmen. „Das wurde uns als Vitamin-Koffein-Getränk verkauft.“ Was Schmidt damals nicht weiß: Dynvital wird auch Schwimmern verabreicht. Die Welt- und Europameisterin Karin König muss nach dem Training direkt zum Trainertisch kommen und ebenfalls Dynvital nehmen oder „herunterwürgen“, wie sie später in einem Prozess aussagt.

Prof. Dr. Ines Geipel, ehemalige Leistungsschwimmerin und ebenfalls Zwangs-Konsumentin von Dynvital, sitzt mittlerweile dem Dopingopfer-Hilfe-Verein vor, der die Interessen von Dopingopfern im DDR-Leistungssport vertritt. Neben André Schmidt sind noch zwei weitere Fußballer Mitglied, außerdem viele Leichtathleten, Schwimmer, Turner, Kanuten – insgesamt fast 200 Personen.

Seit diesem Abend im Januar 2015 grübelt Schmidt über die Zusammenhänge seiner eigenen Geschichte nach. „Ich habe damals nicht darüber nachgedacht, ob dieses Getränk eine Wirkung haben könnte.“ Sportlich fällt ihm auch Jahre später nicht ein, was es in seinen Leistungen verbessert haben könnte. Einzig seine Persönlichkeit war in diesen Jahren bei Lok anders.

André Schmidt und Mental Coach Ochwat beim SV Sandhausen. Foto: Privat
André Schmidt und Mental Coach Ochwat beim SV Sandhausen. Foto: Privat

„Ich war damals wesentlich aggressiver, was wohl das Ziel des Ganzen gewesen ist, und hatte mit 13 Jahren extreme Beinbehaarung.“ Eine Folge von Dynvital? In manchen Dosierungen des Präparats waren männliche Steroide untergemischt. Ob das auch bei Lok der Fall war, lässt sich bisher nicht klären. Der ehemalige volkseigene Betrieb VEB Jenapharm hat das Produkt vertrieben, damalige Mitarbeiter oder Führungspersonen sind rar in der Öffentlichkeit und auch beim 1. FC Lok gibt es heute niemanden mehr, der über die Hintergründe in den 80ern aussagekräftig sein könnte.

Wolfram Löwe kann sich nicht erinnern, dass Spieler etwas bekommen haben sollen, was anrüchig ist. „Das wäre ja auch Wahnsinn gewesen, wenn die Nachwuchskicker irgendetwas in der Richtung bekommen hätten. Was soll das auch schon bringen?“. Roland Freyer, der Mann, der einst die Terrakotta-Armee nach Leipzig brachte und früher bei Stahl Riesa spielte, konnte bisher nicht ausfindig gemacht werden.

Die LZ Nummer 41. Bild Screen LZ
Die LZ Nummer 41. Bild Screen LZ

Ja, nicht mal für den DDR-Fußball insgesamt gibt es bisher Experten, die sich mit der Verbreitung von Dynvital beschäftigt haben. Schmidt hat seine eigene Theorie. „Ich bin nicht der einzige, aber es wird nicht viele geben. Ich vermute, es waren nur bestimmte Jahrgänge und es kam spät im Fußball auf. Vermutlich waren es auch nur wenige Trainingszentren, die mitgemacht haben: Carl Zeiss Jena, da kommt das Produkt her, Leipzig mit der DHfK, möglicherweise Dresden oder FCM.“

Die späteren Bundesliga-Spieler Rico Kauerhof und Frank Rost sind ebenfalls 1973 geboren, spielten in der Jugend mit Schmidt zusammen. Kauerhof lässt eine Anfrage der LEIPZIGER ZEITUNG zu dem Thema unbeantwortet. Der ehemalige Nachwuchschef des VfB Leipzig, Berthold Richter, kann sich gar nicht daran erinnern, dass Schmidt nach der Wende beim VfB gespielt hat, hält den mittlerweile 44-Jährigen für unglaubwürdig.

Schmidt hat sich bisher mit keinem ehemaligen Mannschaftskameraden über das Thema ausgetauscht – und auch medizinisch tappt er weiter im Dunkeln. „Ein befreundeter Psychiater empfahl mir, einen klinischen Pharmakologen zu finden. In Stuttgart schrieb man mir vom Institut zurück, dass man davon keine Ahnung hat. Auch von einem Professor aus Freiburg habe ich bis heute auch nichts gehört.“

Der ehemalige Torhüter ist sich sicher, dass das Thema für viele zu heiß ist. „Es wird niemand die Krankheit mit dem Doping erklären. Mir reicht ja aber schon, wenn mir mal jemand die Verbindung bestätigen kann.“ Mittlerweile ist auch wieder unklar, ob Dynvital tatsächlich ein Dopingmittel ist. „Es gab jedoch Mengen von Dynvital, denen Mestanolon beigemischt worden ist“, so Ines Geipel.

Bekannt ist das Mittel als anaboles Steroid, welches zu DDR-Zeiten ohne klinische Zulassung Sportlern als Doping verabreicht wurde. Bevorzugte Sportarten sind unter anderem Turnen, Eiskunstlauf oder Langstreckenlauf und Sprungdisziplinen, da das Steroid weniger Masseaufbau als andere versprach. Die Sportler sollten schnell und kräftig sein, so der Plan.

Pfingstmontag kehrt André Schmidt mal wieder nach Leipzig zurück. Drei- bis viermal pro Jahr ist er hier. Er sucht Antworten auf seine Fragen.

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