Es ist fast vergessen. Nur bei Statistikern nicht. Vor einem Jahr waren die Medien voller Leidensgesänge in Sachen Mindestlohn. Der wurde ja bekanntlich per 1. Januar 2015 eingeführt. Ohne dass die Welt unterging. Aber - wie es aussieht - auch ohne dass die sächsischen Unternehmen das wahrgemacht haben, was sie in einem "Konjunkturtest" des ifo Institutes angekündigt haben.

Wenn sie es überhaupt so angekündigt haben. Denn wenn man die Meldungen des ifo Instituts zu seinen “Konjunkturtests” liest, dann lag es immer wieder mit Voraussagen und Lageeinschätzungen daneben.

Im September 2014: “Der deutsche Konjunkturmotor läuft nicht mehr rund”. Im Oktober 2014: “Die konjunkturellen Aussichten haben sich nochmals verschlechtert”. Also schöne Alarmzeilen für eine Presse, die auf nichts anderes wartet. Im November hatte man dann doch spitz gekriegt, dass die Lage wohl doch etwas anders war: “Der Abschwung ist zumindest unterbrochen”. Aber im Dezember konnte man sich nicht so recht entscheiden: “Versöhnlicher Abschluss für die sächsische Wirtschaft zum Jahresende” oder “Sächsische Wirtschaft steckt im Abschwung fest”.

Heute Sonnenschein, morgen …

Natürlich hängen solche dramatisierenden Einschätzungen mit dem zusammen, was die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton für ihr eigenes Land kritisiert: der Besessenheit der Aktienunternehmen von Quartalszahlen. Was nicht nur die Dramatik erhöht, sondern auch zu immer kurzfristigerem wirtschaftlichen Handeln führt. In Deutschland ist es eigentlich noch verschärft durch die Tatsache, dass praktisch jedes Wirtschaftsinstitut, das im Gespräch bleiben will, jeden Monat neue Umfrageergebnisse liefert und die Meldungsspalten gefüllt sind mit Umfragen, die heute den Absturz der Wirtschaft prophezeien, morgen ein Feuerwerk, übermorgen Katzenjammer – usw. All das hat mit den tatsächlichen Rhythmen der Wirtschaft nichts mehr zu tun.

Und als das ifo Institut vor einem Jahr mit allerlei Umfragen und Gutachten und Studien gegen die Einführung des Mindestlohns mobilisierte und Ängste schürte, waren die meisten betroffenen Unternehmen längst dabei, sich an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Und das taten sie zumeist nicht mit den sichtlich primitiven Instrumenten, die das ifo Institut abgefragt hatte. Oder nur zum Teil. Dazu kennen Unternehmer ihre Branche zu gut, wissen mittlerweile auch, wie schwer es ist, gutes Personal zu finden. Also dachten die cleveren unter den Unternehmern überhaupt nicht daran, wie es der ifo “Konjunkturtest” suggerierte, massenhaft Personal zu entlassen.

Und da Unternehmer eben nicht in Monaten oder Quartalen denken, haben die meisten schon lange vor dem 1. Januar 2015 angefangen, die Löhne ihrer Mitarbeiter anzupassen. Die Arbeitszeiten übrigens auch, ein Thema, das in der ifo-Abfrage überhaupt nicht vorkam. Das Thema Öffnungszeiten übrigens auch nicht. Denn ganze Branchen haben dabei gut verdient, weil sie mit billigen Arbeitskräften ihre Betriebszeiten immer weiter ausgedehnt haben – und zwar ohne Sonntags- und Feiertagszuschläge.

Auswirkungen auf Sachsen

Vielleicht hatte die Bundesregierung einfach Glück, dass sie mit dem 1. Januar 2015 gerade in eine Zeit hineinkam, in der die ganze Republik  einen steigenden Arbeitskräftebedarf hat. Das hätte aber auch das ifo Institut wissen können, das noch im August 2014 aller Welt mit komplizierten Formeln vorrechnete, wieviele Jobs in Sachsen verlorengehen würden. Die Initiative Neue Marktwirtschaft (INSM) nutzte die ifo-Rechnereien, um ihrerseits Druck auf die Politik auszuüben. 60.000 Arbeitsplätze sollten in Sachsen verschwinden.

Zumindest Sachsens Statistiker haben sich jetzt noch an die Unkenrufe erinnert und in einem 160-seitigen Bericht zur Wirtschaftslage auch ein ganz dickes Kapitel zum Mindestlohn untergebracht, mit dem sie versuchen herauszubekommen, wie sich der Mindestlohn in Sachsen denn nun ausgewirkt hat. Eins jedenfalls ist nicht eingetreten: Die Beschäftigung in Sachsen ist nicht gesunken.

Und das, obwohl Sachsen beim gezahlten Lohn mit zu den Schlusslichtern in Deutschland gehört. Besonders in den Dienstleistungsbranchen wurden oft Löhne weit unter den 8,50 Euro pro Stunde gezahlt. Die Statistiker haben selbst einmal ausgerechnet, wieviele Beschäftigte vom Mindestlohn eigentlich betroffen wären: “Die Zahl der darunter von einem Stundenverdienst von weniger als 8,50 pro Stunde betroffenen Arbeitnehmer lag 2010 bei insgesamt 241.863 Personen. Dies entsprach knapp einem Viertel, genauer 23 Prozent, aller Beschäftigten in Sachsen. In den fünf neuen Ländern zusammen lag das Ergebnis bei 22 Prozent und in Deutschland bei 11 Prozent.”

Im Wirtschaftsbericht wird dann noch eingeschränkt, dass damit nur ein Teil der Beschäftigten erfasst ist. Der Anteil der Wenigverdiener könnte also auch noch wesentlich höher liegen.

Aber es ging ja vor allem um die Frage, wie Sachsens Unternehmen nun wirklich mit dem Thema umgegangen sind. Massenhaft Leute entlassen haben sie nicht. Im Gegenteil – auch in der besonders betroffenen Dienstleistungsbranche sind die Beschäftigtenzahlen gestiegen.

Die Statistiker dazu: “Insgesamt ergab sich für die von der Erhebung in Sachsen erfassten Dienstleistungsbereiche im 1. Quartal 2015 ein Beschäftigungswachstum von 2,4 Prozent (2014: 3,1 Prozent). Auf gesamtdeutscher Ebene lag die Steigerung aktuell bei 2,9 Prozent nach 2,8 Prozent 2014. Insofern geht die Mindestlohneinführung in den Dienstleistungsbereichen offenbar (noch) nicht mit einem (statistisch nachweisbaren) Personalabbau einher, wie es w. u. auch anhand der Daten zur Arbeitslosigkeit deutlich werden wird.”

Kommt das “große Drama” noch?

Das “(noch) nicht” klingt recht burschikos. Sollte das große Drama nicht schon im Januar passieren? Wir schreiben August und der Bericht trägt ebenfalls das Datum August 2015. Was die Zahlen verraten, ist: Der Beschäftigungsaufbau hat sich im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr leicht verlangsamt. Und die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist leicht gesunken. Indirekt verrät die Arbeitsmarktstatistik also, dass die sächsischen Unternehmen ihre Leute eben nicht entlassen haben, dafür die Neueinstellungen etwas gedrosselt haben und die schon Beschäftigten jetzt (möglicherweise für dasselbe Geld) kürzer arbeiten.

Die Unternehmen reagieren also viel flexibler, als es sich die ifo-Experten überhaupt vorstellen können.

Und wie ist das mit den Preisen?

“In mehreren Bereichen kam es in den ersten Monaten des Jahres 2015 zu deutlichen Preiserhöhungen, in anderen bereits viele Monate vorher.  Dabei  stiegen  diese  Verbraucherpreise  in  den  neuen Bundesländern in aller Regel stärker als in den alten Ländern an.”

Sachsens Friseure hatten schon 2013 begonnen, die Preise anzuheben und die Angestellten besser zu honorieren. Die Taxiunternehmen reagierten erst im Januar 2015. Ebenso die Hoteliers und Gastronomen, die sich am heftigsten gegen die Einführung des Mindestlohns gewehrt hatten. Die Bäcker hatten teilweise auch schon im Herbst angefangen, die höheren Löhne für die Angestellten auf Semmeln, Kuchen und Brot umzulegen.

Auch das ein idealer Zeitpunkt – denn da die Energiepreise gerade so richtig im Keller sind, haben die Preiserhöhungen bei den Dienstleistern so gut wie keinen Einfluss auf die Inflation gehabt.

Und nun?

Sachsens Statistiker sind vorsichtige Leute. Sie gehen erst einmal von der Annahme aus, dass einige der höheren Preise möglicherweise von den Kunden nicht angenommen werden und dass man im Sommer 2015 noch nichts Endgültiges sagen könnte. Abwarten und Teetrinken, ist das Motto.

Oder: “Ausgehend vom Betroffenheitsgrad der sächsischen Unternehmen und Betriebe von den Mindestlohnregularien unmittelbar vor deren Einführung zum Jahresanfang 2015, wie er sich auf Basis der Verdienststrukturerhebung vom Oktober 2014 darstellt, ist für die nähere Zukunft jetzt von besonderem Interesse, inwieweit die unternehmerischen Preiserhöhungen von den Konsumenten mitgetragen werden. An Stellen, wo dies nicht oder nur eingeschränkt der Fall ist, dürften die übrigen Anpassungsstrategien künftig stärker als bisher in den (statistischen) Fokus rücken.”

Und da haben die Kamenzer Statistiker jetzt einen Begriff benutzt, der so in den üblichen Wettermeldungen der Wirtschaftsinstitute eben nicht auftaucht: Anpassungsstrategien. Erfahrene Unternehmer haben davon ein ganzes Bündel zur Verfügung. Und selbst die jetzt schon verfügbaren Zahlen zeigen, dass es so plump nicht zugeht, wie es das ifo Institut in den Wind malte. Man versucht seine Leute zu halten, verkürzt lieber die Stundenzahl, zahlt dafür mehr pro Stunde. Denn Erfolg hat man nur in den üblichen – von Presse und Lobby gepriesenen – Großunternehmen mit Masse. Die Kleinen und Mittleren, die in Sachsen dominieren, sind dazu verdonnert, flexibel zu agieren und sich immer wieder neu und kreativ aufzustellen.

Am Ende zählt vor allem eines: Qualität.

Und die bekommt man nun einmal nicht mit Hire&Fire-Personal, sondern mit Angestellten, die den Laden gut kennen und sich im Laufe ihres Arbeitslebens Knowhow und Professionalität erarbeitet haben.

Das Tragische in der Berichterstattung deutscher Wirtschaftsinstitute ist, dass solche professionellen Angestellten in der atemlosen Zahlenspielerei praktisch nicht vorkommen, sondern nur lauter gesichts-, profil- und erfahrungslose Jobwechsler, die so austauschbar sind wie Schrauben oder Computerstimmen.

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