Am 26. September hat die Bundesregierung den Jahresbericht zur Deutschen Einheit vorgelegt. Und wenn man ein exemplarisches Beispiel sucht dafür, warum sich viele Ostdeutsche nur noch veralbert fühlen, dann ist das hier zu finden. In Überschriften wie „Tariflöhne bis 98 Prozent des Westniveaus“ oder „Mit Rentenanpassung soziale Einheit bis 2025 vollendet“. Die Bundespolitik ist auch deshalb ein UFO, das mit der ostdeutschen Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hat.

Die Bundesministerien betrinken sich augenscheinlich jedes Jahr ein bisschen mehr beim Schönmalen der ostdeutschen Wirklichkeit. Dass das ostdeutsche Problem nicht die Tariflöhne sind (die eigentlich längst auf 100 Prozent Westniveau liegen sollten), sondern die Tatsache, dass der größte Teil der ostdeutschen Unternehmen gar keine Tariflöhne zahlt und zahlen kann, muss man wohl in großen Lettern an die Reste der Berliner Mauer schreiben.

Es geht ein tiefer wirtschaftlicher Riss durch die Republik, der nun einmal direkte soziale Folgen hat, wenn sogar die Bundesregierung zugesteht: „Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreicht Ostdeutschland 73,2 Prozent des Westniveaus. Deshalb sind weitere Anstrengungen notwendig, um das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erreichen.“

Den Spruch mit den Anstrengungen mag man eigentlich nicht mehr hören. Sie führen in der Regel dazu, dass man die wirtschaftlichen Gegebenheiten ignoriert. Und die bestehen nun einmal darin, dass der Osten seit 1945 mehrere Wellen der wirtschaftlichen Demontage erlebt hat. Die Schnell-Privatisierung der Ost-Wirtschaft ab 1990 war nur die letzte. Und berechtigterweise gestehen selbst westdeutsche Kritiker zu, dass es den Ostdeutschen dennoch gelungen ist, die Wirtschaftsproduktivität dann wieder zu verdoppeln.

Aber seit ungefähr 15 Jahren gibt es kaum noch einen Aufholprozess. Der würde nun einmal etwas bedingen, was dem Osten seit 1990 nicht passiert ist: die Ansiedlung großer Konzernzentralen. Möglichst mehrerer, mit starken Managements, die dann für die jeweilige Industrieregion Ost genauso kämpfen, wie sie es heute für bayerische, württembergische oder hessische Standorte tun.

Ein Fakt, der übrigens ebenfalls das Gefühl bestärkt, dass die Ostdeutschen nicht mehr Herr ihres eigenen Geschicks sind, sondern abhängig von Entscheidungen, die andernorts gefällt werden. Man denke nur an die leidigen Diskussionen um geplante Werkschließungen bei Siemens, Halberg Guss oder vorher auch Bombardier. Immer sitzen die Entscheider irgendwo im Westen, betrachten ostdeutsche Produktionsstandorte als verzichtbar und zwingen die jeweiligen Landesregierungen zu heftigen Rettungsbemühungen.

Aber der mediale Eindruck bleibt: Der Osten wird stets als überflüssig betrachtet.

Ein Eindruck, der sich erst ändert, seit die Gewerkschaften beschlossen haben, landesübergreifend zu kämpfen – die Belegschaften in Ost und West zu gemeinsamen Kampfmaßnahmen zu organisieren.

Dass das Thema Teilhabe, Partizipation, Mitsprache eine ganz wesentliche Rolle in der nicht-vollzogenen Deutschen Einheit spielt, macht jetzt noch einmal das Leipziger Büro Hitschfeld deutlich, dass sich den Berichtsteil des Wirtschaftsministeriums auf Bürgerbeteiligung hin angeschaut hat. Aber in diesem Ministerium fällt augenscheinlich niemandem auf, wenn so ein Stichwort komplett fehlt.

Akribisch habe das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie in seinem Jahresbericht zur Deutschen Einheit alle Themenfelder des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Miteinanders aufgelistet. Alle – bis auf eines: Beteiligung und Partizipation, stellt Hitschfeld fest.

„Leser der Lektüre werden sagen, der Beteiligung sei ein ganzes Kapitel gewidmet. Das ist formal richtig. Interessant jedoch ist es, was die Bundesregierung unter Beteiligung versteht – nämlich bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Tätigkeit“, kommentiert das Hitschfeld Büro für strategische Beratung, das sich von Leipzig aus nun seit Jahren mit dem Thema Bürgerbeteiligung bei Großprojekten beschäftigt und dabei immer wieder feststellt, dass fehlende Beteiligung ein wesentlicher Faktor ist, der auch zu mehr Politikverdruss führt. Zu einem Phänomen, das sich oft genug auf den Spruch fokussiert: „Die machen ja eh, was sie wollen …“

„Beteiligung im Sinne der Mitwirkung an Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen zu relevanten Vorhaben und Prozessen über das vorgeschriebene Maß hinaus, z. B. bei Infrastrukturvorhaben, spielt keine Rolle“, stellt Hitschfeld fest.

„Unter zwei Gesichtspunkten überrascht dies. Zum einen wäre es angemessen, würde auf bereits verankerte Rechtspositionen zu Mitbestimmung und demokratischem Mitgestalten hingewiesen. Auch sollte eine Aussage dazu getroffen werden, wie diese Möglichkeiten genutzt werden, wie bekannt und gelernt sie sind, welche Notwendigkeit zum Nachjustieren gesehen wird.“

Aber gelernt ist im Kosmos der Behörden augenscheinlich nichts, was wirkliche Partizipation betrifft. Und das betrifft nicht nur das Wirtschaftsministerium. Das dekliniert sich bis ganz nach unten auf Kreis- und Gemeindeebene. Wo Amtswalter keine Mitsprache wollen, wissen sie diese perfekt zu verhindern, egal, ob es um Flughäfen, Umweltschutz oder Gewässerausbau geht.

„Zum anderen aber – und das ist in Zeiten wie diesen geradezu fatal – fehlt damit jede Ermutigung zur Einmischung, zur Formulierung eines Bürgerwillens beim alltäglichen Handeln von Politik, Verwaltung und Wirtschaft“, geht das Büro Hitschfeld auf die Folgen dieser bräsigen Amtswalterei ein. „Es fehlt der Hinweis auf Dialogmöglichkeiten zwischen Staat und Bürger in diesem wichtigen Feld, an dem Politik – nicht nur, aber eben auch – für viele Bürgerinnen und Bürger erlebbar ist.“

Und dabei steht gerade im Berichtsteil des Wirtschaftsministeriums die Energiewende ganz zentral. Hier muss endlich das passieren, was seit 15 Jahren auf der Tagesordnung steht: Die Fertigstellung der nötigen Übertragungsnetze, der Bau entsprechender Speicher, die Weiterentwicklung von alternativen Energieerzeugeranlagen und ein Strukturwandel in den alten Kohlerevieren.

Alles Themen, bei denen Behörden und Konzerne zwingend auf die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen sind. Aber sowohl die „Energiewende“ kleckert als auch die Bereitschaft, die Bürger einzubeziehen, wenn der Wandel gebaut werden soll. Und dabei fordern die Bürger eine echte und transparente Beteiligung geradezu.

„Es ist empirisch belegt, dass es hierfür ein starkes Bedürfnis in der Gesellschaft gibt“, betont Hitschfeld. „An vielen Stellen versuchen die Projektträger und die öffentlichen Verwaltungen dem nachzukommen – nicht zuletzt bei der Umsetzung der Energiewende. Ist dieses Kapitel im Jahresbericht einfach vergessen, dann gehört es nachgereicht. Manifestiert sich hier eine Sicht, dass Beteiligung ausschließlich die Lücken staatlicher Fürsorge in bestimmten Bereichen zu füllen habe, dann hätte der Ostbeauftragte der Bundesregierung seinen Auftrag verfehlt.“

Wobei das eben nicht nur ein Aufgabenfeld für den Ostbeauftragten ist. Verwaltungen auf allen Ebenen müssten es langsam lernen, wie das geht. Gerade die nicht erklärten Kabinettentscheidungen kommen mittlerweile immer schlechter an und werden auch entsprechend als weltfremde Politik begriffen. Auch als Misstrauen in den Wahlbürger, von dem man dann am Wahltag wieder die Stimme haben will. Das passt im 21. Jahrhundert nicht mehr zusammen. Und es betrifft nicht nur den Osten Deutschlands – diesen aber aus wirtschaftlichen Gründen noch viel mehr.

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