Der Brief, den die Bundesminister Barbara Hendricks, Peter Altmaier und Christian Schmidt am 11. Februar an EU-Kommissar Karmenu Vella schickten, hat ja mittlerweile ein ganzes Land in Aufregung versetzt, weil unter anderem darin steht, dass man erwäge, „zusammen mit den Ländern und der lokalen Ebene“ ÖPNV kostenfrei zu machen. Oder fahrscheinlos? Da streiten sich die Geister. Aber auch Stadtrat Dieter Deissler findet, dass sich Leipzig bei so einem Projekt bewerben sollte.

Die Wählervereinigung Leipzig (WVL) beschäftigt sich schon viele Jahre mit der Thematik Öffentlicher Nahverkehr und mit der Entwicklung in Leipzig im Besonderen. Das war noch hörbar, als die Wählervereinigung in einer Bürgerfraktion arbeiten konnte. Bei der letzten Wahl bekam die WVL nur noch ein Mandat, Dieter Deissler wurde Mitglied der Grünen-Fraktion.

Und er erinnert in der jetzigen Situation daran, dass er auch schon 2014 Vorschläge unterbreitet und dafür geworben hat, sich dem Thema kostenloser ÖPNV nicht sofort zu verschließen und Möglichkeiten der Realisierung zu untersuchen.

Ein einziges Schreiben der amtierenden Bundesregierung an den EU-Umweltkommissar reiche jetzt aus, um von einem großen Wurf oder gar von einer Revolution zu sprechen. „Vier Jahre ist nichts passiert, dann in den letzten 4 Wochen noch dieser Paukenschlag. Ja, es ist phantastisch, dass sich überhaupt in Berlin jemand wagt, solche Gedanken laut auszusprechen. Nur schade, dass sich sofort alle Kritiker und Nein-Sager zu Wort melden müssen und erklären, warum es nicht gehen soll“, sagt Deissler und zählt deren fadenscheinige Argumente auf: „Die Gesetzeslage ließe es nicht zu. Die Finanzierung sei noch unklar! Die vorhandenen Kapazitäten würden dafür nicht ausreichen usw., usw. – lediglich die Autolobby hat, wie überraschend, noch keine Einwände vorgetragen. Alleine der Begriff für diesen Gedanken, Gratis- oder fahrscheinloser Nahverkehr oder auch Bürgerticket, scheint die Nation schon zu spalten.“

Ganz entscheidend sei doch, dass die Mehrheit der Gesellschaft dies will und für gut erachtet.

„Dafür sprechen doch genügend Gründe. Überlastung der Straßen – im Übrigen nicht nur beim fließenden Verkehr – auch die zunehmenden Parkplatzprobleme häufen sich. Die permanenten Schadstoffüberschreitungen müssen doch jeden weitestgehend gesund lebenden Bürger überzeugen – für sich selbst, aber mehr noch für die Kinder. Und mit Fahrverboten muss ohnehin gerechnet werden, wenn wir die jetzigen Zustände nicht radikal verändern“, sagt Deissler.

Aber anders als die meisten Jubler kennt er die Materie und weiß, dass man erst einmal über die materielle und finanzielle Basis so eines Vorschlags nachdenken muss.

Denn, so Deissler: „Zu bedenken gilt es, dass die Umsetzung ein jahrelanger Prozess sein wird. Weder muss das Geld in einem einzigen Jahr zur Verfügung stehen, noch werden schlagartig alle Bürger auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen. Die notwendigen Fahrgastkapazitäten werden erst nach und nach zur Verfügung stehen müssen – abhängig davon, wie erfolgreich das Angebot genutzt wird. Wichtig ist, das Angebot muss erst gemacht werden. Sollten wir doch innovativ sein. Wichtig ist nur, dass die Bürger mitgenommen und überzeugt werden, dass nicht sofort die Nein-Sager die Oberhand gewinnen und dass auch Teillösungen betrachtet und umgesetzt werden. Beispielsweise könnte im ländlichen Raum eine Kombination aus verschiedenen Lösungen realisiert werden, u. a ein Anruftaxi. Im Übrigen gibt es in einzelnen Kommunen bereits die unterschiedlichsten Lösungsansätze, die bisher meistens daran scheitern, dass sie lediglich in abgeschlossenen Verkehrsräumen umgesetzt werden und sich deshalb gegen das Gesamtsystem nicht durchsetzen können.“

Womit er aber wieder ein Phänomen beschreibt, das die gegenwärtige große Politik so ungenießbar macht: das herrschende Schwarz-Weiß-Denken, das immer nur noch Dafür oder Dagegen kennt, Ja oder Nein, Links oder Rechts. Alles wird zugespitzt und bis zur völligen Niederlage des einen oder anderen niederdiskutiert.

Und statt die kleinen Schritte zu gehen, die möglich sind, wird gar nichts getan.

„Es wäre extrem wichtig, dass in der Versuchsphase eine ostdeutsche Stadt teilnimmt, eine Großstadt mit den bundesweit größten Einwohnersteigerungen. Besser wäre noch die Region Leipzig/Halle – dies hätte sogar den besonderen Charme, dass zwei Städte aus zwei Bundesländern gemeinsam betrachtet würden“, sagt Deissler.

Die Kritik, dass die Finanzierung doch unklar sei, findet er fadenscheinig.

„Einerseits darf einen Tag nach der Öffentlichmachung nicht eine vollständige Finanzierung erwartet werden, andererseits erinnert sich jeder an den Alleingang der Kanzlerin zum Atomausstieg von einem zum anderen Tag. Die Finanzierung dafür dürfte heute noch unklar sein“, sagt Deissler. „Und dass eine Finanzierung machbar sein muss, belegen verschiedenste Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit, dabei darf nur an die Immobilienblase, den Bankenskandal oder die Griechenlandhilfe erinnert werden, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Auch die Regelung bei den Rundfunkgebühren, die ohne Beteiligung der Bürger so festgelegt wurde, unterstreicht einmal mehr, dass auch ein ‚Bürgerticket‘ machbar sein muss.“

Und dann geht Stadtrat Dieter Deissler auch noch auf die spezielle verdrehte Diskussion zum „Bürgerticket“ ein: „Von den vielen Kritikern sollte auch bedacht werden, dass es nicht das Bürgerticket gibt, sondern unendlich viele Varianten zwischen der heutigen Situation und einer Vision der kostenlosen öffentlichen Nahverkehrsnutzung. Für jede Kommune und für jede Region wird es maßgeschneiderte Lösungen geben, inhaltlich und zeitlich. Ein erster Schritt könnte beispielsweise die Halbierung der jetzigen Fahrpreise sein. Dass die Nutzer sich im ersten Schritt noch mit einem verringerten Fahrpreis beteiligen, wäre eine Finanzierungsquelle, andere Einsparungen sind zu generieren bei den jetzigen Ausgaben für den Individualverkehr, zu erwartende Strafgelder aus Brüssel wegen Nichteinhaltung der Grenzwerte und die Förderung aus Brüssel“.

Sein Fazit: „Ich appelliere an den Oberbürgermeister, sich sowohl in Berlin, als auch in Brüssel dafür einzusetzen, dass die Region Leipzig/Halle zwingend in das Versuchsprogramm mit aufgenommen wird. – Wie eingangs gesagt, die Gesellschaft muss es wollen. ‚Wir schaffen das‘!“

Nicht die Bundesregierung rudert beim „kostenlosen ÖPNV“ zurück, sondern sensationslüsterne Medien haben das Thema bis zum Nonsens hochgejazzt

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