Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Viele vermuten genau das derzeit für das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in der Coronakrise, da die einhergehenden finanziellen Probleme erneut zuerst jene treffen, die in freien Berufen, als Künstler und (Solo)Selbstständige leben. Eine entsprechende Petition auf den Seiten des Bundestages vom 14. März 2020 stand am 22. April bei fast 140.000 Unterzeichnern; ab 50.000 muss sich der Petitionsausschuss des Bundes mit solchen Eingaben befassen. Das BGE erreicht am 27. April 2020 also zum zweiten Mal nach 2009 den Bundestag, erneut eingereicht durch Susanne Wiest.

Die Idee: Jede Bürgerin erhält ohne Beantragung ein monatliches Grundgeld von 1.000 bis 2.500 Euro je nach Rechenmodell. Das „eine Modell“ gibt es nicht, sie reichen von sozial bis neoliberal, sehen also mehr oder weniger hohe Zahlungen bei verschiedenen wegfallenden, anderen Leistungen vor. Damit ginge eine radikale Veränderung der deutschen Steuer- und Sozialgesetze einher. Und die Einsparung des hinter jedem der derzeit einzelnen staatlichen Leistungen arbeitenden Behördenapparates.Denn im Gegenzug bedeutete das BGE ein Wegfall vieler anderer Leistungen von Kindergeld, Freibeträgen, Wohngeld und diverser weiterer Sozialleistungen bis hin zur Rente im Alter zugunsten einer neu geordneten Steuerklasseneinteilung, welche in aufsteigenden Stufen auch das Grundeinkommen von Mehrverdienern wieder einzieht. Weitreichende BGE-Modelle beziehen Kinder und Senioren mit ein, je nach Ausrichtung mit halbierten Beträgen für die Kleinen und steigende Zahlungen im Alter je nach vorherigem Verdienst.

Abgerechnet würde dann alles über die Finanzämter, die Arge und Jobcenter müssten erstmals wirkliche „Agenturen“ werden, welche mit den Arbeitsuchenden zusammenarbeiten, ohne Druck ausüben zu können. Eine Entlassungswelle in den Abteilungen, welche derzeit Bedarfe von Antragstellern berechnen oder Sanktionen aussprechen wäre wohl die Folge. Die vier Prozent Verwaltungskosten in der Rentenversicherung entfielen ebenfalls, dafür dürfte die Arbeit in den Finanzbehörden leicht steigen.

Gleichzeitig erhoffen sich die Befürworter vor allem eine neue Augenhöhe bei Gehaltsverhandlungen und eine Aufwertung gerade jener Berufe wie Kranken- und Altenpfleger, aber auch Servicekräfte in verschiedenen Branchen, da Bewerber/-innen auf eine Arbeitsstelle wüssten, dass für ihre grundlegenden Bedürfnisse gesorgt ist.

Auch hier würde der Druck, eine Stelle annehmen zu müssen, sinken, während sich BGE-Anhänger dadurch steigende Löhne gerade in den menschennahen Berufen wie Seniorenpflege, Reinigungs- oder Logistikdienstleistungen von Radkurieren bis Amazon-Pickern erhoffen.

Woher kommt seit 12 Jahren die Kraft für die Idee?

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 78, Ausgabe April 2020. Foto: Screen LZ
Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 78, Ausgabe April 2020. Foto: Screen LZ

Dass mittlerweile wohl jeder vom Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) gehört hat, liegt vor allem daran, dass die Sozialrechtsreform im Jahre 2005 unter der heute oft auch als zynisch empfundenen Losung „Fördern und Fordern“ das SGB II, besser bekannt als „Hartz IV“ mit sich brachte.

Seither haben über 10 Millionen Deutsche mit dem SGB II Kontakt gehabt, nun noch einmal verstärkt durch die Coronakrise und noch immer gilt: der Staat gibt erst Geld zum Überleben, wenn man (fast) kein eigenes mehr hat, die Formulare können wie derzeit in Sachsen-Anhalt inklusive Rechtsbelehrungen bis zu 60 Seiten lang werden.

Der Apparat „Arbeitsagentur“ galt bereits vor der Coronakrise eher als eine Kontrollbehörde gegen angeblichen Sozialbetrug im Centbereich, Melkkuh für Anbieter meist sinnloser Weiterbildungen wie Bewerbungstrainings und als Arbeitgeber für ehemalige Telekommitarbeiter und Ex-Bundeswehrzweitsoldaten – also Angestellte, welche in der freien Wirtschaft selbst wenig Chancen hätten.

Und natürlich als Behörde, welche bis in den privatesten Bereich hinein Kontounterlagen einsehen, Wohnungen kontrollieren und selbst sexuelle Beziehungen zur Erschaffung sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“ unterstellen darf, wenn man zusammen wohnt.

Die erst 2019 als teilweise verfassungswidrig eingestuften Sanktionen, also Kürzungen eines Existenzminimums bei fehlendem Wohlverhalten, taten ihr Übriges in der eher schlechten Beziehung zwischen Staat und Bürger/-innen, wenn diese vorher selbst mit eingezahlte Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen. Und selbst jetzt – in einer der größten Wirtschaftskrisen, welche Deutschland in den vergangenen 70 Jahren erlebt – tut sich die Behörde mit ihren kommunalen Jobcentern sichtlich schwer, erstmals Geld ohne Vorbedingungen und Vermögensabfrage auszubezahlen.

Während vor allem vielen Soloselbstständigen, aber auch freien Mitarbeitern im Kunst- und Kulturbereich derzeit der Antrag auf sechs Monate „Grundsicherung“ nicht erspart bleibt, geistern Meldungen von Vermögensprüfungen weiter durch die Gazetten. 9.000 Euro sollen es derzeit sein, die man besser nicht überschreitet – sonst sieht der Staat einen „vermögenden Bürger“ vor sich, welcher sich selbst über Monate fehlender Aufträge retten soll. Natürlich werden auch weiterhin akribisch alle Zuverdienste abgefragt und de fakto zu fast 100 Prozent verrechnet.

Rekordzahlen bei der Petition zum BGE im Bundestag

Nicht ohne Grund stärken auch solche Geschichten erneut die BGE-Anhänger und die neuerliche Petition von Susanne Wiest, welche am 27. April 2020 mit sicher über 140.000 Unterschriften den Bundestag zum Handeln auffordern wird (heute, am 26.04.2020 steht die Zahl nun bei über 174.000 Unterschriften, d. Red.).

Dass es dabei um weit mehr als eine neue Freigrenze im unteren Einkommensbereich geht, machte bereits die Begründungsablehnung des ersten, damals von über 50.000 Menschen unterstützten Vorstoßes von Wiest durch den damaligen Staatssekretär im Arbeitsministerium, Ralf Brauksiepe, bei der Anhörung am 8. November 2010 klar.

Die mit der Einführung eines BGE in Deutschland verbundene „völlige Umstrukturierung des Steuer-, Transfer- und Sozialversicherungssystems“, so Brauksiepe, lehnte die damalige Bundesregierung ab.

Was er dabei nicht sagte, ist die weit größere Dimension über diese aufgeworfenen Fragen hinaus. Ein sozial austariertes BGE würde einen Kerngedanken des Kapitalismus angreifen. Dieser spiegelt sich im Wort „Arbeitgeber“ und dem Missverständnis, dass dieser eigentlich der „Arbeitnehmer“ ist, wider. Nähme man also den Druck zur Arbeitssuche von den Menschen, hätte dies weit größere Folgen, als nur einen Umbau der sozialen Systeme.

Spanien macht sich, aus der Coronanot heraus geboren, gerade auf diesen Weg. Ausgang und die genaue Ausgestaltung des BGE dort sind jedoch noch ungewiss. Doch eine Wirkung hat es bereits: Deutschland wird dieser Debatte nicht noch einmal aus dem Weg gehen können.

Weit müsste dieser letztlich nicht sein. Auch ein „kleines BGE“ in Form einer bedingungslosen Gewährung von Hartz IV unter Freigabe des Zuverdienstes wäre wohl eine echte Revolution.

Hinweis der Redaktion: In der aktuellen LEIPZIGER ZEITUNG, Nr. 78, Ausgabe April 2020 finden Sie Pro und Contra-Beiträge zum BGE. Die neue „Leipziger Zeitung“ (VÖ 24.04.2020) liegt an allen bekannten Verkaufsstellen aus. Fast alle haben geöffnet – besonders die Szeneläden, die an den Verkäufen direkt beteiligt werden. Oder die LZ einfach einfach abonnieren und zukünftig direkt im Briefkasten vorfinden.

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