In mittelalterlichen Gesellschaften wurden Menschen, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkamen, in den Schuldturm gesperrt um die Zahlung zu erzwingen. Aus diesem System hat sich die moderne deutsche Justiz selbstverständlich entfernt – obwohl, es gibt ja die Erzwingungshaft und die Ersatzfreiheitsstrafe. Erstere dient dazu, verschuldete Menschen zur Erklärung ihrer Zahlungsunfähigkeit zu zwingen und ist im Ordnungswidrigkeitengesetz verankert.

Ich möchte mich, in der Hauptsache, mit der zweiten, der strafrechtlichen Form, beschäftigen. Diese ist, meines Erachtens, ein direkter Nachfolger des Schuldturms.

Was ist eine Ersatzfreiheitsstrafe?

Das Strafgesetzbuch formuliert das in §43 wie folgt: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag.“

Gehen wir das einmal durch.

Zu Beginn eine Anmerkung: Ich will hier nicht auf die sozialen Probleme des Max Mustermann, so interessant diese auch sind, eingehen. Es geht mir, wie folgt beschrieben, nur um die Ersatzfreiheitsstrafe.

Max Mustermann, normalerweise Fußgänger oder Fahrradfahrer, fährt egal aus welchem Grund ohne gültigen Fahrtausweis mit der Straßenbahn und wird vom Kontrolleur ertappt. Das Verkehrsunternehmen schickt ihm eine Rechnung über 60 €, also das erhöhte Beförderungsentgelt. Das passiert dreimal, es stehen also 180 € Schulden beim Verkehrsbetrieb im Raum.

Zivilrechtliche Schritte

Max Mustermann ist nicht aus Spaß schwarzgefahren, er hat weder Geld für eine Monatskarte noch für das Tagesticket, sein Fahrrad ist kaputt und die Wege zu weit zum Laufen. Er ist zwar noch in Arbeit, mit seinen Minijobs bleibt er aber sogar unter dem unpfändbaren Grundbetrag.

Das Geld, welches er monatlich zur Verfügung hat, reicht für Miete, Energie und das Lebensnotwendigste. Eine ihm angebotene Ratenzahlung kann er nicht leisten, könnte er das, dann hätte er sich ja ein Ticket gekauft.

Der Verkehrsbetrieb erwirkt also einen Mahnbescheid, später einen Vollstreckungsbescheid, und eine Zwangsvollstreckung scheitert, mangels Masse. Jetzt kann der Verkehrsbetrieb auf strafrechtlichem Wege vorgehen.

Strafrechtliche Schritte

Das „Schwarzfahren“, bzw. die „Beförderungserschleichung“, ist im Strafgesetzbuch geregelt, und zwar im § 265a „Erschleichen von Leistungen“. Somit kann das Verkehrsunternehmen die Zahlung über eine Strafanzeige erzwingen. Bei wiederholter „Beförderungserschleichung“ machen diese das auch im Regelfall.

Max Mustermann bezahlt also nicht und der Fall kommt vor Gericht. Der Richter erlässt, im Regelfall ohne persönliche Verhandlung, einen schriftlichen Strafbefehl. Das heißt, er verurteilt Max Mustermann zu einer Geldstrafe, hier aus Plausibilitätsgründen zu 180 €.

Dieser Strafbefehl, die Eintreibung der Geldstrafe, kann durch einen Gerichtsvollzieher vollstreckt werden. Da aber aus o.g. Gründen eine Vollstreckung „in absehbarer Zeit zu keinem Erfolg führen wird“ (§ 459c Abs2 StPO) kann die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe anordnen (§ 459e StPO).

Dafür wird nun gemäß § 40 StGB ein Tagessatz festgelegt. Regelmäßig beträgt der Tagessatz meist 5 bis 25 € (Stellungnahme des Deutschen Richterbundes) und die Anzahl der Tagessätze, d. h. die Anzahl der Hafttage, variiert in NRW (ebenda) zwischen 16 und 90 Tagessätzen.

In unserem Fall wird für Max Mustermann ein Tagessatz von 10 € festgelegt und er geht für 18 Tage ins Gefängnis.

Die Folgen:
1. Bei einem Bundesdurchschnitt von 109,38 Euro pro Tag für jeden Inhaftierten entstehen der Gesellschaft durch diesen Fall 1.968,84 € Kosten.
2. Da mit der Haft nur die Geldstrafe abgebüßt ist, bleibt Max Mustermann dem Verkehrsbetrieb weiter 180 € schuldig, die er nicht bezahlen kann.
3. Durch den Verdienstausfall in den 18 Tagen und den evt. damit zusammenhängenden Verlust seines Jobs, beantragt Max Mustermann Hartz IV.
4. Max Mustermann ist zwar nicht vorbestraft, das ist erst bei 90 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe der Fall, aber verschuldet. Der Verkehrsbetrieb kann und wird das Inkasso vorantreiben.

Die Ersatzfreiheitsstrafe ist eine Strafe für ihn, gesellschaftlich aber völlig ohne jeglichen Nutzen. Eine Resozialisierung, wie sie dem deutschen Strafsystem nachgesagt wird, erfolgt hier nicht – eher das Gegenteil.

Das Schuldturm-Prinzip

Der Schuldturm hatte in der mittelalterlichen Gesellschaft zwei Funktionen. Zum ersten sollten Menschen gezwungen werden, ihr versteckten Habseligkeiten zur Schuldentilgung einzusetzen. Das wäre heute das Prinzip der Erzwingungshaft.

Das Zweite, vergleichbar mit der Ersatzfreiheitsstrafe, ist die reine Bestrafung und die Abschreckung anderer, die vielleicht dieselbe Straftat begehen würden. Da die dazugehörige Schuldknechtschaft, mit der die Schulden abgetragen wurden, abgeschafft wurde, ergibt sich ein Paradox.

Der Schuldner wird bestraft – auf Kosten der Gesellschaft.

Alternativen

Der Deutsche Richterbund sieht in seinem, bereits oben verlinkten Positionspapier, mehrere Probleme der Ersatzfreiheitsstrafe, zumindest beim Schwarzfahren.

1. Geringe kriminelle Energie erforderlich, die Gefahr erwischt zu werden ist gering, die Verhältnismäßigkeit wird nicht gewahrt
2. Aufwand der Strafverfolgung, also der Staatsanwaltschaften, Gerichte und Justizvollzugsanstalten.
3. „Da die Straftat des Schwarzfahrens typischerweise von Menschen begangen wird, die über wenig Geld verfügen, kommt es relativ häufig zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe, weil die verhängte Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Kurze Freiheitsstrafen sind aber generell fragwürdig; sie tragen kaum zur Resozialisierung der Täter bei. Hier sollte allgemein über eine Ausweitung von Programmen wie ‚Schwitzen statt Sitzen‘ nachgedacht werden.“

Punkt 3 musste ich einfach zitieren, da er das Beispiel Max Mustermann erhärtet und er verweist auf den Ersatz durch z. B. Sozialstunden. Den Begriff „Schwitzen statt Sitzen“, kann man hier verwenden, mir gefällt er nicht.

Fazit

Eine Reform ist hier dringend notwendig, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft.
Es gibt, auch im Bundestag, eine breite Zustimmung zu einer Veränderung des entsprechenden Paragraphen. Angefangen von der Linksfraktion, die diese ganz abschaffen will, bis zur FDP, die die Strafe halbieren will.

Ich meine, hier ist viel Sachverstand und Einfühlungsvermögen erforderlich. Kann man die Ersatzfreiheitsstrafe für Schwarzfahren und die für eine nicht gezahlte Geldstrafe bei Körperverletzung oder sexueller Gewalt gleichsetzen?

Das ist ein Prozess, den Legislative und Judikative gut durchdenken müssen.

Bevor die Ersatzfreiheitsstrafe hier komplett abgeschafft oder reduziert wird, sollte überlegt werden, ob nicht Armutsdelikte, wie Schwarzfahren oder Erschleichung von Leistungen im Energiebezug von dieser ausgenommen werden.

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