Es gibt Bücher, da ist man richtig froh beim Lesen, dass man nicht mehr so jung ist und so ratlos vor der ganzen überwältigenden Vielfalt des Lebens. Freiheit kann ganz schön belastend sein, wenn man – wie die Heldin in Judith Kleibs’ erstem Roman – gar nicht weiß, was man in der großen Stadt eigentlich will, wohin man will oder ob man überhaupt etwas will. Denn Wollen hat immer etwas Endgültiges. Und darin steckt oft die allergrößte Angst.

Und die größte Verachtung. Das kann man auch nicht überlesen. Denn die vielen falschen Freiheitsbegriffe, die heutzutage vermarktet werden, stecken auch voller Verachtung für all jene Menschen, die sich einmal entschieden haben – für einen Brotberuf, einen Partner oder eine Partnerin, Kinder, eine Stadt, einen Arbeitgeber.

Je mehr man das alles aufdröselt, umso mehr merkt man, wie gerade das ganz einfach strukturiertes Leben, das die meisten tatsächlich leben, verachtet und entwertet wird von einer Marketingwelt, die so tut, als wäre für jeden und jede ein völlig unabhängiges und unverantwortetes Leben möglich und erstrebenswert.

Abend für Abend sitzen dann Millionen da und schauen einem scheinbar so leichten und erstrebenswerten Leben von Leuten zu, die sich um nichts zu kümmern brauchen und in den Tag hineinleben. Reichtum macht frei – aber er gibt dem Leben keinen Sinn.

Und sie halten das tatsächlich erstrebenswert. Was zu den gewaltigen Verunsicherungen in unserer Gesellschaft beiträgt. Denn das stellt die Sinnfrage des Lebens. An der viele junge Menschen dann verzweifeln, so wie die Heldin in dieser Geschichte, die in eine anonyme große Stadt gekommen ist, um irgendwie in ihr eigenes Leben zu starten – noch anhängig vom Geld der Eltern, aber eigentlich an dem Punkt, dass sie sich eine Arbeit suchen muss, um ihr eigenes Leben zu finanzieren. Doch sie zögert, sitzt wochenlang tatenlos in ihrer Wohnung.

Freiheit macht Angst.

Und sie macht einsam.

Jenseits der Normen

Und so ist es beinah gar nicht überraschend, dass sich diese Heldin nur zu bereitwillig darauf einlässt, als eines Tages eine andere junge Frau auf sie zukommt und sie einfach einvernahmt. Als Lebensbegleiterin, als die Frau, mit der sie sich beim Einschlafen geborgen fühlt. Marla heißt sie und lebt – wie Judith Kleibs es ausdrückt – „ein freies und intensives Leben jenseits der Norm“.

Was eben auch bedeutet: ohne eigene Wohnung, ohne eigenes Einkommen. Einfach dadurch, dass sie andere Leute für sich zu begeistern weiß und ihre Hilfsbereitschaft erweckt, sodass sie all das bekommt, was sie braucht.

Und es finden sich immer wieder andere Menschen, die das durchaus fasziniert, wie Marla und ihre neue Freundin durchs Leben kommen. Sie bieten ihnen Essen, Obdach, mal die Couch im Durchgangszimmer, mal sogar ein Zimmer im Haus, so wie Ian, wo die beiden später sogar so etwas wie ein Zuhause finden.

Doch das geht nicht dauerhaft gut. Den dieser Ian geht nicht nur einem trockenen Brotberuf nach, mit dem er sich sein Hobby – eine eigenwillige Szenezeitung – und seine Auszeiten finanziert. Irgendwie interessiert er sich tatsächlich für die beiden, hat aber ein Problem. Denn gerade bei Marla merkt er, dass ihr Auftreten eigentlich nur Fassade ist.

Sie lässt niemanden wirklich an sich heran. Natürlich merkt man so etwas, wenn ein Mensch sich völlig verschließt und immer nur eine Rolle spielt. Auch die Erzählerin merkt es, akzeptiert es aber, weil es ihr auch ermöglicht, genauso ungreifbar zu sein. Wer nicht zu greifen ist, den kann auch niemand festnageln. Den kann niemand wirklich mit sich selbst konfrontieren.

Das Leben, ein cooler Traum?

Es ist nicht nur die Geschichte zweier junger Frauen, die den Ausstieg zelebrieren und sich immer wieder einreden, dass sie nur so frei sind. Es ist auch eine Geschichte über unsere Gesellschaft mit all ihren käuflichen Vorstellungen von Coolness, Überlegenheit, Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit.

Die Stadt, die Judith Kleibs in Konturen zeichnet, könnte genauso gut Essen sein, Hannover oder Leipzig. Eine Stadt, zu der ihre Protagonisten keine Beziehung haben, aus der sie eigentlich sogar wegwollen, weil es darin nichts gibt, was sie wirklich festhält.

Außer das wilde Partyleben, das Nacht für Nacht die jungen Leute in die Bars zieht, wo sie große Reden über ihren Erfolg, ihre Eroberungen und ein bisschen Rebellion halten. Jeder aufs Eifrigste darum bemüht, die anderen zu beeindrucken, eine glänzende Fassade zu zeigen und so zu tun, als wäre ein Leben in völliger Unabhängigkeit der Traum ihres Lebens.

Während die beiden jungen Frauen diesen Traum scheinbar auch leben. Auch wenn es nur ein prekäres Leben ist, sie immer darauf angewiesen sind, dass andere ihnen weiterhelfen. Wie echt ist das wirklich? Wie tragfähig? Und vor allem: Wie hält man das aus, wenn man die ganze Zeit das Gefühl hat, dass die anderen sehr wohl denken, dass die beiden Frauen nur Parasiten sind?

Gäste auf Zeit, die auch nicht wirklich Wert auf Beziehungen und Nähe legen. Was dann auch in dem schon früh geäußerten Vorwurf mündet, die beiden lebten nur in ihrem eigenen Königinnenreich. Wo sie glauben, der Mittelpunkt der Welt zu sein und niemand anderes zu brauchen.

Die Freiheit hat eine ganz finstere und erbärmliche Rückseite. In gewisser Weise ist Judith Kleibs’ Roman ein Experiment, ein Gedankenexperiment: Wie wäre es wirklich, wenn man als junger Mensch diese ganzen falschen Vorstellungen vom Für-nichts-verantwortlich-Sein auch lebt?

Konsequent. Vielleicht auf Einladung einer Marla, die die Erzählerin einlädt in ihre Welt und ihr Leben. Auch wenn sie wirkliche Nähe nie zulässt, auch nichts sagen will über die lärmenden Geräusche, die sie immer wieder hört.

Die Angst vorm eigenen Leben

Dem Einzigen, dem Marla tatsächlich ihre Gedanken darüber anvertraut, was sie erlebt, ist ihr Tagebuch, das sie nun schon so lange führt, wie sie dieses Leben „in Freiheit“ lebt. An dem sie ihre ausgewählte Gefährtin freilich nur ausschnittweise teilhaben lässt, denn was davor passierte, das will sie nicht wirklich erzählen. Das würde zu viel von ihr und ihren Verletzungen preisgeben, darf man vermuten.

Vielleicht auch zu viel verraten von ihrer Selbstbezogenheit. Auch das kann man nur ahnen, als die Erzählerin fast am Ende dieser langen und letztlich ziellosen Reise durch die Nacht auch den Eintrag zum ersten Tag ihrer Begegnung liest.

Ein wenig verstört, aber nicht wirklich empört darüber, dass sie für diese Marla eigentlich nie wirklich mehr bedeutet hat als die Frau zu sein, an der sich Marla festhalten konnte. Die Begleiterin, damit der Flug durch all diese Nächte nicht gar zu einsam ist.

Am Ende verschwindet Marla einfach. Ohne dass klar wird, warum und wohin. Nur eines weiß die Erzählerin: Eine andere wird sie ersetzen. Marla ist jetzt nicht mehr die Ausrede dafür, dass sie ihr eigenes Leben nicht lebt.

Und da wird es spannend, auch wenn genau an der Stelle die Geschichte zu Ende ist. Denn was wie der Versuch einer unbedingten Freiheit aussieht, entpuppt sich als Geschichte einer Abhängigkeit, wie sie auch andere Leute erleben. Vielleicht nicht so exzessiv, so rücksichtslos und angstlos.

Aber die meisten Menschen haben Angst vor der wirklichen Freiheit, die uns tatsächlich immer zu Entscheidungen zwingt. Entscheidungen, von denen wir nicht wissen, was sie am Ende mit sich bringen. Ist die Partnerin tatsächlich die, mit der wir glücklich werden? Halten wir Nähe tatsächlich aus oder sind wir eigentlich schon so verängstigt, dass wir nur noch Furcht davor haben, dass uns jemand tatsächlich meinen könnte?

Schneckenhäuser

Denn davor laufen diese beiden jungen Frauen die ganze Zeit davon. Und das funktioniert auch, weil eine Menge Menschen, die ihnen Obdach geben, ganz genauso ticken, auch wenn sie sich in ihren Wohnungen und Gewohnheiten eingerichtet haben.

Denn das macht man ja oft auch einfach, um mit der lebendigen Welt und ihren Verstörungen nichts mehr zu tun zu haben. Besitz als Kokon, als Schutzhülle. Fast bin ich geneigt, schon ins nächste Buch zu rutschen, in dem Gerald Hüther auf seine einfühlsame Weise darauf hinweist, wie sehr unsere ganzen gepriesenen technischen Errungenschaften vor allem eines bilden: einen wachsenden Schutzpanzer, der uns immer mehr vor echten Kontakten mit lebendigen Menschen bewahrt.

Das trifft auf das Auto genauso zu wie auf all die Filterblasen im Internet, in denen sich nur noch Gleiche mit Gleichen treffen – und zwar auf Distanz. Man kommt mit den richtigen Menschen dahinter gar nicht mehr in Berührung.

Und das ist natürlich ein Nebeneffekt unserer Gesellschaft, die alles so clean und ordentlich und abgezirkelt definiert, dass die Angst vor Grenzüberschreitungen geradezu eingebaut ist in alles, was unseren Alltag bestimmt.

Gut möglich, dass da sogar sehr viele Menschen herumlaufen, die ihre Berührungsängste vor den anderen so verinnerlicht haben, dass sie zu wirklicher Nähe gar nicht mehr fähig sind. Und ständig davonlaufen. Denn nichts anderes ist es ja, was die beiden jungen Frauen die ganze Zeit tun. Sich nur ja nicht verletzlich machen, indem man sich entscheidet und bindet.

Der Mut zum eigenen Leben

„Diese Geschichte beruht auf einer wahren Idee“, schreibt Judith Kleibs quasi als Wahlspruch vor ihre Geschichte. Und da schaut man dann schon besorgt in ihre kurze Biografie. Aber sie hat es geschafft, hat Soziologie studiert und arbeitet als Mediatorin und Kommunikationstrainerin in Leipzig.

Geschafft auch in dem Sinn, dass junge Menschen die Situation der Erzählerin nur zu gut kennen. Denn es ist ja auch die Fülle der Freiheit, die zögern lässt und entmutigen kann – entmutigen bis zur Handlungsunfähigkeit. Aber die meisten schaffen es tatsächlich, sich eines Tages allen Mut zusammenzuraffen und Entscheidungen zu treffen. Für eine Stadt, ein Studium, einen Beruf, Freundschaften und mögliche Geliebte.

Also die so absolut gedachte Freiheit ganz bewusst zu reduzieren auf etwas, zu dem sie sich selbst entschlossen haben. Erst dann wird das eigene Leben aber auch das eigene Leben. Und beginnt auch das eigentliche Abenteuer.

Denn das Gefühl wird man in dieser Geschichte nie los: Es sieht nur so aus, als würden die beiden jungen Frauen viel erleben. Aber es wird nicht greifbar. Es bleibt immer im Ungefähren und Unverbundenen. Kein Wunder, dass Ian eines Tages die Nase voll hat und den beiden die Koffer vor die Tür stellt.

Denn genau das hält man als Mensch nicht aus: Wenn Nähe nur ein Trug ist und die Mitmenschen nur als Fassade erlebt werden, hinter die man nicht schauen kann. Menschliche Begegnungen haben immer zwei Seiten. Und meistens gehört ein bisschen Mut dazu, sich tatsächlich zu öffnen und zu vertrauen.

Auch so eine Seite der falschen Freiheit, die Vertrauen, Nähe und Verletzlichkeit nicht zulassen kann. Und damit zur Falle wird.

Judith Kleibs Königinnenreich Mosses Schroeter Verlag, Leipzig 2022, 22 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar