Na, was glaubt sie denn nun? Glaubt sie überhaupt? - Ganze Serien von Medienveröffentlichungen haben sich seit 2000, seit Angela Merkel Vorsitzende der CDU ist, mit der Frage beschäftigt. Manche auch schon vorher. Denn der Aufstieg der ostdeutschen Protestantin war für die Kommentatoren der alten Bundesrepublik immer ein Rätsel. Ein religiöses noch dazu.

Denn bis 1990 galt für die Parteien mit dem “C” immer auch die enge Bindung an die Kirchen des Landes, vor allem an die im Süden starke Katholische Kirche. Man definierte sein politisches Handeln christlich, die führenden Vertreter der Kirchen hatten praktisch den direkten Draht in die Parteien und erwarteten auch, dass die Positionen der Kirche auch die Positionen der konservativen Politik waren.

Etliche Kommentatoren haben auch lieber ignoriert, dass schon in den 1980er Jahren, in der Regierungszeit Helmut Kohls, ein spürbarer Säkularisierungsprozess auch in der CDU begonnen hatte. Nur machte der große Pfälzer davon kein großes Aufheben, handelte lieber pragmatisch und übte dann mit Worten die nötige Nähe zu den Kirchenspitzen. Der Prozess endete ja nicht mit der Wiedervereinigung. Im Gegenteil. Auch die Berufung Angela Merkels, die im Sommer 1989 noch nicht einmal von einer politischen Karriere träumte, als Familienministerin ins erste Nachwende-Kabinett Kohl war schon ein unübersehbares Zeichen, dass sich nicht nur die Bundesrepublik veränderte (was einige Leute bis heute nicht wahr haben wollen), sondern auch die große Volkspartei CDU. Sie wurde mit der Verstärkung aus dem Osten nicht nur protestantischer, sondern auch säkularer. Wobei das nicht immer zu trennen ist.

Das machte Volker Resing schon 2009 deutlich, als er die erste Version dieses Buches vorlegte, 2010 hat er es noch einmal überarbeitet, denn 2009 war Angela Merkel wieder Bundeskanzlerin geworden, 2010 folge ihr zehnjähriges Jubiläum als CDU-Vorsitzende. Logisch, dass der Titel jetzt noch einmal überarbeitet wurde, denn nun ist sie auch schon zehn Jahre lang Kanzlerin und zumindest die Presse hat schon laut über ihre nächste Spitzenkandidatur nachgedacht. Dass die konservativen Schwergewichte in der CDU jetzt gerade wieder an der Fähigkeit von Angela Merkel zweifeln, die aktuelle Krise zu meistern, klingt zwar im Ton vieler Medienbeiträge recht apokalyptisch. Aber da liest man nun in Resings sehr freundlichem Porträt der Frau, die in einem Pfarrhaus in Brandenburg groß wurde, und wird an all die Krisen ihrer Zeit als Ministerin, Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin erinnert – und siehe da: Es ist nichts Neues.

Irgendwie sind die Katastrophen von heute immer schlimmer als die von gestern, auch wenn sich die von gestern längst in lauter Kompromisse, neue Debatten, vorsichtige Annäherungen oder auch nur vage Übereinkommen verwandelt haben.

Zum Glück lässt es Resing nicht bei der Analyse der religiösen Haltung von Angela Merkel bewenden. Auch wenn dort eigentlich schon alles sichtbar wird, etwa ihre extreme Zurückhaltung, wenn es um öffentliche Darstellung von Privatleben und religiöser Praxis geht. Was übrigens einen der deutlichsten Unterschiede zwischen zeigefreudiger katholischer und eher persönlicher und zurückhaltender protestantischer Religionsausübung ist. Man assoziiert die Zurückhaltung der Ostdeutschen, mit ihrem Persönlichsten in die Öffentlichkeit zu gehen, gern mit der Nischenkultur der DDR. Aber vielleicht trifft ganz etwas anderes zu (vielleicht sogar zum Ärger der der einstmals Mächtigen im Osten), dass diese Zurückhaltung eher nichts mit sozialistischer Unterordnung in eine (Zwangs-)Gemeinschaft zu tun hat, sondern Ergebnis von 500 Jahren Protestantismus ist, der nicht nur die Trennung von Staat und Kirche lebte (für manchen gedienten westdeutschen Politiker geradezu unverständlich: Wo bleiben denn da die Werte?), sondern auch die von Friedrich II. von Preußen so deutlich auf den Punkt gebrachte Haltung: Selig werden soll jeder nach seiner Fasson. Der Staat hat dabei nichts zu suchen.

Und so benennt Resing auch öfter den “preußischen Protestantismus”, den er als Grunderklärungsmuster für Angela Merkels sehr zurückhaltenden Umgang mit dem Thema Religiosität anführt. Was ihn trotzdem nicht davon abhält, sehr ausführlich ihre Beziehungen zur einstmals dominierenden katholischen Fraktion innerhalb der CDU zu analysieren, ihren Umgang mit den drei Päpsten, denen sie in offizieller Funktion begegnete, die sie sogar auf ihre zurückhaltende Art zu kritisieren wagte – was in deutschen Kirchenkreisen jedes Mal geradezu einen Entrüstungssturm entfachte.

Doch während einige hartnäckige kirchliche Kritiker schon früh den Untergang der Partei mit dem “C” beschworen, wenn diese nicht mehr die grundkatholischen Haltungen der 1950er Jahre vertrat, zeigen alle Wahlergebnisse der letzten Jahre, dass Angela Merkels Versuch, die CDU zu modernisieren und den drängenden politischen Themen der Gegenwart (Energiewende, Familienpolitik, genetische Forschung) zu öffnen, gelungen ist. Und das nicht unbedingt, weil sie ihre Partei dabei irgendwie nach links verschoben hätte, sozialdemokratisiert, wie das dann meist heißt, sondern weil die Parteimitglieder selbst immer säkularer wurden. Und protestantischer. Tatsächlich hat sie wohl auf ihre abwägende und immer wieder von Kompromissen geprägte Art nur nachvollzogen, was sowieso schon innerhalb der Partei, aber auch im gesamten Land passierte. Denn es blieb ja nicht nur beim großen Schwapp Protestantismus und Atheismus, der mit der Deutschen Einheit dazu kam. Die gesamte Republik ist von einem Prozess geprägt, in dem sich immer weniger Menschen direkt den großen Konfessionen und Kirchen verbunden fühlen – selbst dann nicht, wenn sie sich nach wie vor als religiös begreifen.

Deswegen klingt so mancher Ruf von Bischofsstühlen oder aus dem konservativen Lager innerhalb der CDU viel lauter und mächtiger, als er durch die dadurch tatsächlich vertretenen Personengruppen tatsächlich ist. Die Zahl der großen Männer, die mächtig gegen Angela Merkel gepoltert haben und heute kein Spitzenamt mehr bekleiden, ist Legion. Nicht immer hat Angela Merkel selbst dafür gesorgt, dass sie gehen mussten. Manchmal haben sie sich auch selbst demontiert, weil sie nicht mehr gemerkt haben, wie sich die Haltung der Gesellschaft zu bestimmten Themen gewandelt hat.

Angela Merkel, nun einmal ausgebildete Wissenschaftlerin, ist da eher eine Politikerin, die sich vorher kundig macht, die sich mit der Materie beschäftigt und die Bruchlinien und Kompromissfelder auslotet, bevor sie endgültig ihre Meinung sagt. Die zaudernde Kanzlerin, wie sie oft genannt wird. Aber gerade damit zeigt sie tatsächlich, worin sich ein weiblicher Politikstil vom männlichen Gepolter und Kopf-durch-die-Wand-Stil unterscheiden kann.

Obwohl auch sie ihr “alternativlos” kennt, das sie dann und wann vom Stapel ließ, wenn sie die Mehrheit hinter sich wusste. Was sie trotzdem nicht davon abhielt, ein halbes Jahr später das Gegenteil zu tun und als alternativlos zu begründen – wie im Fall des Atomausstiegs 2011, als die üblichen Presse-Auguren auch schon das Ende ihrer Kanzlerschaft beschworen.

Rensing versucht das auch mit ihrer manchmal quälend langen Suche einer Deckungsgleichheit des Möglichen mit den eigenen Haltungen zu begründen. Das führt er am Streit um die Abtreibungsgesetze in den 1990er Jahren genauer aus, als Merkels Haltung sich deutlich von der Mehrheitsmeinung ihrer Partei unterschied und sie im Bundestag sogar eine Niederlage kassierte, weil sie nicht hinter der Position ihrer Partei stand. Das, so Resing, habe sie deutlich vorsichtiger und abwägender gemacht und präge eigentlich ihren Politikstil bis heute.

Worin sie dann wieder eher nicht ihrem großen Förderer Helmut Kohl ähnelt, sondern mehr dem zurückhaltenden Lothar de Maizière, der sie 1990 zur stellvertretenden Pressesprecherin gemacht hatte und ihr damit den Beginn der politischen Karriere ermöglichte. Und so ganz zufällig war sie an der Stelle nicht gelandet, denn Revolutionärin war sie nun mal nicht. Eher typisch für viele damalige DDR-Bürger, die die ersten, noch wirklich gefährlichen Wochen lieber abwarteten und sich erst auf die Straße und in die Diskussionen wagten, als die alte Macht gelähmt war und auch für leisere Töne wieder Raum. Eine hübsche Stelle im Buch beschäftigt sich mit den Physikern der DDR, die damals ähnlich prominent in den diversen neu gegründeten Parteien auftauchten wie die Pfarrer. Die Pfarrer dominierten in der SPD, Angela Merkel wollte aber eher in eine Gruppierung, die wesentlich christlicher war – aber auf keinen Fall in die damalige Blockpartei CDU. So landete sie beim Demokratischen Aufbruch, der dann in der Märzwahl 1990 der “Allianz für Deutschland” quasi den nötigen Schuss Bürgerrechtsbewegung verschaffte.

Aber Angela Merkel brachte eben auch die so typische DDR-Erfahrung mit, ohne die man sein Selbstbewusstsein seinerzeit nicht behaupten konnte: Man darf sich nicht vereinnahmen lassen. Und das macht bis heute ihre spürbare Distanz nicht nur zu Kirchenhierarchien oder Parteikollegen aus. Etliche Wegbegleiter interpretieren das als Kälte. Aber je mehr man die Versuche Volker Resings liest, diese Kanzlerin auf einer ganz persönlichen Ebene zu verstehen, umso mehr wird deutlich, wie die notwenig gelernte Skepsis des Ostens allen Hierarchien und Verbänden gegenüber sich auch in Merkels Handeln wiederfindet. So gesehen, war ihr tatsächlich nicht zuzutrauen, dass sie sich gegen den Haufen von maßgeblichen Unionspolitikern würde durchsetzen können, die an einem blassen Ego allesamt nicht krankten. Doch gerade ihr ist es gelungen, die CDU auf merkliche Weise zu modernisieren und auch für außerkirchliche Wählergruppen wählbar zu machen.

Die Zeiten, dass man Katholizismus in Deutschland und CDU mit einem Gleichheitszeichen versehen konnte, sind vorbei. Und vielleicht sind deshalb auch die konservativsten Parteiakteure derzeit wieder einmal so wütend: Sie definieren ihre Welt noch immer aus der katholisch-provinziellen Perspektive, während Angela Merkel geradezu gezwungen ist, auch ein Flüchtlingsproblem mindestens europäisch zu denken.

Da und dort merkt man beim Lesen, wie sich die Überarbeitung von 2010 unter die von 2015 schiebt. Aber irgendwie erscheint Merkels Politik dabei keineswegs so “unterzuckert”, wie es mal der “Spiegel” beschrieb. Sie macht auf andere Weise Politik als alle ihre Vorgänger. Und nach dieser einfühlenden Analyse hat man zumindest eine Ahnung, warum das so ist – und warum das auch funktioniert.

Volker Resing Angela Merkel – Die Protestantin, St. Benno Verlag, Leipzig 2015, 12,95 Euro.

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