Ja, wer soll sich eigentlich kümmern um die - zu Unrecht - vergessenen Autoren, wenn es nicht die Autoren selber tun? Gerade dann, wenn es sich um zerrissene, gescheiterte, unangepasste Gestalten handelt? Gern vergessen von der hohen Literaturwissenschaft. Und siehe da: Der Leipziger Autor Francis Nenik hat gleich vier gefunden und mit spitzer essayistischer Feder porträtiert.

Dabei sind die Essays über den (vergessenen) englischen Avantgarde-Dichter Nicholas Moore und den (vergessenen) tschechischen Avantgarde-Dichter Ivan Blatny, die Nenik schon 2012 in dem Doppel-Essay „Vom Wunder der doppelten Biografieführung“ porträtiert hat, und das über den südafrikanischen Dichter Edvard Vincent Swart, der sich unbeliebt machte, weil er sich mit den weißen Ausbeutern anlegte (und das auch noch als talentierter weißer Bürgersohn, wo gibt es denn sowas?), eher die Vorspeise, die Einstimmung auf den eigentlich neuen Teil des Buches. Denn auch der Essay über Swart – „Zu Tode gelebt“ – erschien schon 2014 in einer Zeitschrift. Beide Texte stimmen schon auf das Thema ein, das Nenik dann auch im eigentlichen Haupttext durchspielt: was mit Schriftstellern passiert, wenn sie von der Parteilinie abweichen.

Und da ist es egal, ob es die verordnete Parteilinie tschechischer Stalinisten ist, die südafrikanischer Apartheid-Befürworter oder eines elitären bürgerlichen Feuilletons, das Autoren einfach für erledigt erklärt, wenn man die nächste Mode als einzig gültig feiert. Neniks Helden machen einfach weiter, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und dann kommt diese Geschichte, die eigentlich den größten Teil des Buches ausmacht, die Nenik als Groteske bezeichnet, auch wenn das Groteske erst durch die jeweils Mächtigen ins Leben des Hasso Grabner kommt.

Auch diesen Mann gab es tatsächlich – 1911 in Leipzig geboren, gelernter Buchhändler, überzeugter Kommunist, der frühzeitig in die Maschinerie der NS-Justiz geriet, einige Jahre im Zuchthaus Waldheim und einige im KZ Buchenwald eingesperrt war, später ins Strafbataillon 999 gepresst wurde und mit diesem zur Verheizung vorgesehenen Teil der Wehrmacht nach Griechenland kam. Erst auf dem Rückzug gelang ihm die Flucht, so dass er noch im Frühjahr 1945 dabei war, als das Nationalkomitee Freies Deutschland in Leipzig aktiv wurde. In den Folgejahren war er immer wieder der Mann, den die neu zusammengezimmerte Partei hinschickte, wo einer gebraucht wurde, der den Laden ins Laufen brachte – ob beim Mitteldeutschen Rundfunk, als Direktor von Stahlwerken, Leiter eines Gussbetriebes oder im Jahr 1956 als Aufbauleiter des Prestigeprojektes „Schwarze Pumpe“, wo ihm der Schriftsteller Arnolt Bronnen über den Weg lief. (Den er gleich mal verhaften lassen wollte. Schriftsteller haben in Staatsbetrieben nichts zu suchen …)

Eigentlich – so denkt man – ein echter Funktionärstyp, so einer, von denen es in den sozialistischen Aufbauromanen dieser Zeit wimmelte. Doch die Realität war eine andere. Und das erlebte dieser Hasso Grabner früh. Immer wieder eckte er mit seiner Art, die Dinge unkonventionell zu lösen, an, machte sich bei Parteibürokraten unbeliebt und geriet mit seiner unzensierten Art, über die Probleme zu reden, in genau jene Mühlen, die in die SED mit ihrer Gründung als stalinistische Partei von Anfang an eingebaut waren. Irgendwie auch Glück für Francis Nenik, den Nachgeborenen: So entstanden Berge von Akten und Protokollen einer von Misstrauen, Neid und Missgunst durchherrschten Partei, in denen auch das Leben und der Stolz eines Hasso Grabner sichtbar werden, der zu Recht darauf pochen konnte, für seine Überzeugungen wirklich gelitten und gekämpft zu haben.

Und so wie er seinen Kampf gegen die Faschisten begriffen hatte, so packte er auch jede Aufgabe an, die ihm übertragen wurde, brachte Betriebe auf Touren, den Laden zum Flutschen – und landete immer wieder vor diversen Parteikontrollkommissionen, weil diese Partei, zu der er mit Überzeugung stand, sich schon von Anfang an zu einer Partei der Moralisten, Kriecher, Bürokraten und Anscheißer entwickelt hatte. Und immer wieder verbannten ihn die moralinsauren Funktionäre hinunter in die Produktion, machten aus dem unangepassten Direktor einen Hilfsarbeiter – den seine eigenen neuen Kollegen dann schnellstens wieder zum Direktor machten, weil der alte, von der Partei eingesetzte, von seinem Job keine Ahnung hatte.

Man kommt eigentlich in eine Frühphase dieser seltsamen DDR, in der so etwas noch möglich war. In der sogar noch Leute wie dieser Grabner aus Überzeugung Kommunist waren und daraus auch das Recht ableiteten, über die gemeinsame Sache streiten zu dürfen.

Was sich aber mit dieser Scheindemokratie, die sich demokratischer Zentralismus nannte, nicht vereinbar war. Was Grabner dann bei seinen letzten Zitierungen vor die Parteikontrollkommission auch als maßgefertigtes Klägerkollektiv zu sehen bekam. Da saßen nicht mehr die alten Widerstandskämpfer, mit denen er gemeinsam in Waldheim und Buchenwald gesessen hatte. Da saßen jüngere Schnösel, die zu einer Art Parteilichkeit erzogen worden waren, die eher an Inquisition und katholische Kirche erinnerte. In der letzten Szene lässt Nenik diese Bande farbloser Parteiwächter einfach sitzen, während sein Held Hasso Grabner – schon vom Alter gezeichnet – einfach den Raum verlässt.

Da war er schon lange kein Retter von Großbetrieben mehr, sondern Schriftsteller. Und zwar einer, dem diese Genossen einige Jahre lang das Veröffentlichen untersagt hatten und sich auch noch diebisch darüber freuten, dass er am Hungertuch nagte und hochverschuldet war. Was sich erst in seinen späten Jahren änderte, als seine Romane zu echten Bestsellern wurden und immer neue Auflagen erlebten. Die Lyrik war wohl nicht so seins. Aber selbst als Schriftsteller ist er ein Unikum für diese Zeit, eigentlich der Erste, der ein Prosastück in jener Stilform vorlegte, die dann als Vorzeigemodell auf der Bitterfelder Konferenz angepriesen wurde. Er hatte über die weiland bekannte Jugendbrigade „Mamai“ geschrieben und sie in ihrem Kampf um den Titel auch in ihrem Alltag begleitet. Er hatte auch seinen eigenen Zirkel schreibender Arbeitet betreut. Reden durfte er im Kulturhaus Bitterfeld auch. Aber eigentlich war er da auch schon wieder in Verschiss. Der Leipziger Schriftstellerverband ging genauso hochnotpeinlich mit ihm um wie die allmächtige Partei. 1961 wurde dann auch noch die Stasi auf ihn angesetzt.

Und das alles erzählt Nenik in einem ironischen, spitzen und doch liebevollen Ton, weil er diesen unangepassten Grabner nicht nur versteht, sondern auch seine Not wiedererkennt: In einem Land zu leben, das eigentlich mal das Land seiner Träume war, und dann von grauen, faden, feigen Männern immerfort schikaniert und ausgegrenzt zu werden. Während seine Akten immer dicker wurden. Sie vergaßen nichts. Bei jeder neuen Runde holten sie die alten Vorwürfe wieder hervor, rieben sie Grabner unter die Nase und fällten ihre Urteile. Hier wird eigentlich sichtbar, wie dieses Land funktionierte – und am Ende nicht mehr funktionieren konnte. Gerade weil es mit Unangepassten aller Couleur genau so umging wie mit diesem Hasso Grabner.

Was jetzt klingt, als hätte Nenik so eine Art politischen Roman geschrieben. Hat er aber nicht. Eher ist es ein  Schelmenroman, den er hier vorlegt. Nur dass Grabner kein Eulenspiegel war und mit den Sachwaltern des Systems zusammenrauschte, weil er sich das Recht zum eigenen Denken, zu Widerspruch und vor allem auf ein eigenes Leben nach seinen Vorstellungen nahm. Alles ziemlich unerwünscht, gerade in der Welt eines Paul Fröhlich. Das war der Leipziger SED-Chef, ein Hardliner übelster Sorte, der sich mit seiner inquisitorischen Art in Startposition gebracht hatte, um mal Nachfolger von Walter Ulbricht zu werden. Er hatte die Parteispürhunde höchstpersönlich auf Grabner angesetzt. So einen selbstbewussten Mann empfand er als Störenfried. Und die Jagdhunde gaben sich alle Mühe, Grabner geheimbündlerische Machenschaften nachzuweisen. Und fanden keine. Der Kerl meinte, was er sagte, tatsächlich ernst.

So betrachtet ist das Buch auch eine Bestandanalyse für ein Land, in dem die zur Macht gekommenen alles taten, alle Eigenständigkeit und alles Selbstbewusstsein auszuradieren. Am Ende waren – wie man weiß – die Grabners selten geworden. Man hatte sich einfach selbst kastriert und spuckte dämliche Phrasen vom Tapezieren und von Ochs und Esel. Natürlich erzählt Nenik nicht so weit. Allein schon für die turbulenten Lebensjahre dieses Hasso Grabner hat er Berge von Akten durchstudiert und daraus den Saft gepresst, der eine richtig gute, lebendige und beeindruckende Geschichte ergibt. 1974 lässt er seinen Helden die Sesselfurzer der Parteikontrollkommission einfach sitzen. Zwei Jahre später starb Grabner.

Ihm geht es ganz ähnlich wie dem kurz erwähnten Rudolf Bartsch: Auch seine Bücher sind heute nur noch antiquarisch erhältlich, ein Verlag, der sein Erbe pflegt, hat sich noch nicht gefunden. Dafür ist Nenik über seine Geschichte gestolpert und hat so ganz nebenbei mit geschildert, wie autokratische Gesellschaften funktionieren. Egal, ob sie grau eingefärbt sind, rot oder beige. Es kommt immer aufs Selbe raus, wenn Ignoranten und Kulturfeinde an die Schalthebel der Macht kommen (und Grabner warf Parteichef Ulbricht tatsächlich vor, von Literatur nicht die blasseste Ahnung zu haben): Sie trampeln auf allem herum, was nicht ins vorgeschriebene Bild passt und merzen es aus, weil es in ihrer platten Weltsicht immer nur Wildwuchs ist, Chaos, Ungehorsam.

Und meistens sind die Betroffenen ziemlich allein. Deswegen korrespondieren alle vier Lebensschicksale in diesem Buch miteinander, wirkt das, was dieser Hasso Grabner mit den Glattgebürsteten in der DDR erlebte, auf einmal exemplarisch, geradezu typisch. Es passiert immer wieder. Und manchmal findet sich dann zum Glück eine wohltätige Seele, die wenigstens die Gedichte rettet und dem zu Tode Gelebten ein wenig vom verdienten Nachruhm verschafft, jener stillen Aufmerksamkeit, mit der sich die Texte von Menschen lesen lassen, von denen man weiß, dass sie zu Lebzeiten ins Abseits gedrängt worden waren. Oh, die Mächtigen und die Opportunisten können ziemlich zynisch sein, wenn sie ihre Tänze auf den niedergetrampelten Kritikern feiern.

Aber am Ende werden die Straßen eben nicht nach den Autokraten benannt (auch wenn sie zu Lebzeiten alles umbenennen ließen), sondern nach den Dichtern. Na gut, eine Hasso-Grabner-Straße gibt es noch nicht. Aber alles fängt mal so an: Mit einem neugierigen Leipziger Autor, der sich in Archive vergräbt und mit einem Kerl wieder zurückkommt, von dem man weiß, dass der auch heute überall anecken würde.
Francis Nenik Doppelte Biografieführung, Spector Books, Leipzig 2016, 14 Euro.

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