Es ist wieder Kalenderzeit. Und wohin reist man am liebsten, wenn draußen die Welt ungemütlich ist? Natürlich in heimische Gefilde. Am liebsten auch ganz weit zurück, in die Geschichte. Ein historischer Kalender muss her. Oder zwei? Hat Leipzigs Vergangenheit da was zu bieten? Man darf staunen: Es gibt auch weiterhin Bilder einer Stadt, die man so noch nicht oder nicht mehr kennt.

Auch in den üblichen Büchern zur Geschichte tauchen die Bilder, wie sie Mark Lehmstedt für den Kalender 2017 ausgesucht hat, selten bis nie auf. Denn meistens sind es spezielle Orte, von denen heute im Stadtbild nichts mehr zu sehen ist. Da fehlt der schnelle Anknüpfungspunkt und eher selten gibt es auch den ambitionierten Lokalhistoriker, der sich noch einmal in solche Geschichten vertieft. Auch wenn sie spannend sind und da und dort auch noch als Straßenname im Stadtbild präsent.

So wie das Jacobshospital, an das auch heute noch die Jacobstraße erinnert. Es lag nahe am Rosentaltor und war drei Jahrhunderte lang das wichtigste Krankenhaus der Stadt. Und trotzdem verschwand es aus dem Stadtbild, als das Waldstraßenviertel entstand und der neue Klinikstandort an der Liebigstraße gebaut wurde.

Verschwunden ist um diese Zeit auch die Ruine des Kees’schen Schlosses in Lößnig. Ein Schloss in Lößnig? – Zu jedem einzelnen Kalenderblatt gibt es auf der Kalenderseite die kleine notwendige Geschichte, damit man überhaupt einordnen kann, was man sieht. Denn wer kennt schon noch die Lage des alten Froschteiches im Kohlgarten in Reudnitz? Das mit den Kohlgärten hat man schon irgendwie gehört. Es kam ja nicht nur der Kohl für die Leipziger aus den nahe gelegenen Kohldörfern, auch das ganze restliche Gemüse. Das kaufte man ja nicht im nicht existierenden Supermarkt, sondern bei den Bauern, die mit ihren Ernten zum Markt in die Stadt kamen. Echte Frischemärkte: Gemüse, Obst, Eier, Milch. Erst in der Goethezeit entstanden da draußen auch die ersten Ausflugslokale. So wie Händels Kuchengarten, nur ein Stück weiter vom Standort, den das März-Kalenderblatt zeigt. Heute rauscht hier die Ludwig-Erhardt-Allee. Unvorstellbar, sich hier einen fröhlich spazierenden Studiosus Goethe vorzustellen, der zum Lerchenschmaus in Händels Kuchengarten wandert.

Aber gerade deshalb regen die alten Radierungen und Holzstiche die Phantasie an. Man hat ein kleines Guckfenster in eine verschwundene Vergangenheit. Wann kommt man schon einmal dazu, durchs Innere von Reichels Garten zu spazieren? Der genauso verschwunden ist wie die dörfliche Welt mit den Kohlgärten. In diesem Fall war es der Reichel-Erbe Carl Heine, der Reichels formidablen Garten parzellierte und damit die Westvorstadt schuf. Die dann auch das Gebiet von Gerhards Garten verschlang mitsamt dem dort idyllisch aufgebauten Sommertheater „Tivoli“. Auch die Leipziger der Mitte des 19. Jahrhunderts liebten es schon, sich an warmen Sommertagen Theater im Freien zu Gemüte zu führen. Freilich ordentlich in Sonntagsstaat gekleidet, wie man sieht. Ein eklatanter Widerspruch eigentlich, als hätte jemand einfach das illustre Abendleben aus dem Neuen Schauspiel an die frische Luft versetzt.

Dass wir noch in der Reiter- und Klepperzeit sind, zeigt der sauber gestochene Blick aufs Römische Haus, das sich der Musikverleger Härtel am Peterssteinweg hatte bauen lassen, ohne zu ahnen, dass die Stadtplaner hier mal eine Straße entlangführen wollten. Als die Straße dann gebaut wurde, musste das Römische Haus weichen. Es stand da, wo heute die Härtelstraße auf den Peterssteinweg stößt. Man könnte die LVB-Haltestelle dort ruhigen Gewissens Römisches Haus nennen.

Immer neu lädt der Kalender zum Perspektivwechsel ein, zeigt im Dezember die Stadt auch mal von Osten. Kennt man das? Eigentlich nicht. Denn hier sind nicht nur die Stadtmauern mit der kompletten Fortifikation von 1730 zu sehen, im Vordergrund der Großbosesche Garten – auch der längst überbaut. Rechts sieht man Johanniskirche und Johannishospital. Erst wenn man es weiß, kann man sich selbst einordnen.

Dasselbe geschieht einem im November, wo man der Beschießung der Pleißenburg beiwohnt im Jahr 1632. Nur: Von wo schießen die denn, diese Schweden? Doch nicht von draußen, wie das sonst üblich war? Dumm für die Besatzung der Burg: Die Schweden waren schon in der Stadt und konnten von drinnen schießen. Und es stand weniger Gemäuer im Weg als heutzutage.

Der Kalender lädt also zu allerlei Perspektivwechseln ein, zum Spazieren durch Zeitschichten sowieso, die nur noch in Büchern aufzuspüren sind. Aber das alles nicht nostalgisch, sondern mit den nötigen Informationen für Geschichtsinteressierte, die im Vergangenen auch immer die Zeichen der Veränderung sehen. Denn das moderne Leipzig stammt aus diesen ganzen Verwandlungen, den Umbauten und Überbauten. Oft genug war es auch ein wahrnehmbarer Verlust. Von den großen bürgerlichen Prachtgärten ist ja nichts geblieben, genauso wenig wie von den einstigen Kohldörfern. Und selbst bei der Sächsisch-Thüringischen Gewerbeausstellung braucht man die alten Lithographien, um zu erkennen, was davon heute im Clara-Park noch zu sehen ist. Und was nicht.

Der Eindruck ist nicht ganz zufällig: Die Leipziger haben ihre Stadt gewaltig umgekrempelt. Und dabei ist es nicht einmal das mittelalterliche Leipzig, das man hier sieht, sondern die barocke und klassizistische Schicht, die ihre Zeitgenossen als  höchst modern empfanden, nicht ahnend, wie erst das qualmende 19. Jahrhundert alles umwühlen würde. Und wie sehr dann das strenge Renditedenken über alles hinwalzen würde: Gärten, Felder, Teiche und sogar Häuser, die einfach im Wege standen, weil die rasend wachsende Stadt keine Rücksicht mehr nahm auf alte Strukturen.

„Leipzig in alten Ansichten. Kalender 2017“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 14,90 Euro.

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