Irgendetwas läuft falsch in den westlichen Demokratien. Das wird derzeit auch vielen Leuten bewusst, die bislang immer noch glaubten, die Demokratie sei stark genug, um den Triumph von Populisten, Wirrköpfen, Narren und Chauvinisten zu verhindern. Aber das Gegenteil ist der Fall: Augenscheinlich kommt denen der moderne Wahlzirkus geradezu entgegen. Was läuft da falsch? Darüber grübelt Jason Brennan seit zehn Jahren.

Er ist Philosoph und Politikwissenschaftler und lehrt an mehreren amerikanischen Universitäten. Und da er vom Philosophischen kommt, betrachtet er die Politik auch mit besonderem Blick. Dem eines belesenen Mannes, der noch weiß, dass Demokratie vor allem ein Ideal ist, ein philosophisches Konstrukt, das ein paar übermütige Franzosen und Amerikaner vor über 200 Jahren in die Praxis umgesetzt haben, nicht wissend, ob es funktionieren würde. Denn wirkliche Praxistests für diese Regierungsform gab es nicht, nur einige zaghafte Vorläufer, wenn man so an Venedig denkt, die Schweiz und Großbritannien. Oder die ganz frühen Tests in Griechenland und Rom. Und natürlich Stapel von philosophischen Schriften über die ideale Regierungsform. Man denke nur an Platons „Der Staat“ oder Morus’ „Utopia“.

Die großen Denker beobachteten sehr wohl, wie ungenügend und ungerecht so ungefähr alles war, was die Menschheitsgeschichte zu bieten hatte – von der Oligarchie über die Diktatur bis zur Monarchie. Glück hatten die Bürger immer nur dann, wenn zufällig mal ein kluger und humaner Herrscher auf den Thron kam, der wirklich ein Interesse an einer ordentlichen Staatsverwaltung, der Mehrung des Wohlstands und der Wahrung des Friedens hatte. Solche Herrscher bekamen dann vom Volke oft den Beinamen „der Weise“ oder „der Große“. Aber keine Staatsform konnte garantieren, dass das dauerhaft so blieb und dem weisen Herrscher nicht ein durchgeknallter Spinner folgte, ein arroganter Möchtegern oder einfach nur ein Flachflieger der Intelligenz, der unfähig war, überhaupt zu begreifen, was er anrichtete. Die Geschichte ist voller solcher Typen.

Demokratie nur ein Ideal?

Was ein Grund dafür ist, dass die Aufklärer des 18. Jahrhunderts eben nicht nur davon träumten, die Monarchie mit allen ihren Schmarotzern abzuschaffen, sondern auch handfeste Theorien entwickelten, wie eine besser austarierte Gesellschaft aussehen könnte. Darauf konnten die Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung genauso zurückgreifen wie die Revolutionäre von 1789. Nur dass die Sache 1789 augenscheinlich heftig aus dem Ruder lief und die Revolution zum Schreckgespenst für ganz Europa machte. Aber nach vielen Geburtswehen können Demokratien heute eine erstaunliche Bilanz vorweisen. Sie sind tatsächlich das erfolgreichere Regierungsmodell, haben den Wohlstand der Völker gemehrt und auch gerechtere Zustände geschaffen. Keine Frage.

Und trotzdem, sagt Brennan. Und er sagt es sehr deutlich und sehr ausführlich. Denn das Unbehagen mit dem aktuellen Zustand der Demokratie hat er ja nicht erst seit Trumps Wahlsieg, auch wenn sein Buch 2016 praktisch pünktlich zum Ereignis in den USA erschien. Augenscheinlich ist in den USA schon seit Jahren eine heftige Diskussion über die Legitimation der Demokratie in ihrer heutigen Form in Gang, denn Brennan bezieht sich fast nur auf Schriften amerikanischer Autorinnen und Autoren, die versuchen, philosophisch zu begründen, warum die Demokratie die bestmögliche Regierungsform ist und warum sie durch die Teilhabe aller Bürger an der Wahl legitimiert ist und den Bürger durch seine politische Teilhabe auch noch bildet, ihn moralisch reifer macht.

Darin spiegeln sich die alten Diskussionen des 18. Jahrhunderts, worauf Brennan nicht eingeht, aber was ein wenig erklärt, warum die Demokratie heute noch immer so idealisiert wird. Immerhin musste es im Zeitalter der Aufklärung noch begründet werden, warum man gewillt sein sollte, ein weitgehend ungebildetes Volk an der politischen Macht teilhaben zu lassen. Da vermischte sich Rationalismus mit idealistischer Überfrachtung. Aber 200 Jahre Praxis sind im Grunde eine Menge Stoff, um etwas daraus zu lernen.

Die meisten Wähler wissen gar nicht, was sie tun

Und das ist eigentlich der verblüffende Zwiespalt, den Brennan ausmacht: Auf der einen Seite sieht er die Berge von philosophischen Begründungen dafür, dass Demokratie die bestmögliche Form des Regiertwerdens sein muss. Und auf der anderen kann er auf ebenso umfangreiche soziologische Studien und Umfragen verweisen, die jede, aber wirklich jede These zur Idealisierung der Demokratie widerlegen.

Die politische Teilhabe hat keineswegs ein mündiges, gut informiertes Staatsvolk hervorgebracht. Gerade die Studien in den USA belegen, dass die meisten Wähler über politische Zusammenhänge, die Funktionsweise des Staates, die Rolle von Parteien und die Austarierung der Macht so gut wie nichts wissen. Es sind alles amerikanische Studien, sagt man sich so im Stillen. Und so toll ist es um das amerikanische Bildungssystem ja nicht bestellt. Aber: Ist es in Europa wirklich anders?

Allein der Blick in soziale Netzwerke und Talkshows zeigt eigentlich genug: Es ist hier nicht viel anders. Die meisten Menschen verfügen über kein halbwegs belastbares Wissen über Politik, Regieren, Funktionsweise ihrer eigenen Gesellschaft (nicht mal in ihrer eigenen Kommune). Und es ist ihnen auch herzlich egal. Sie gehen nicht wählen, weil sie wissen, was sie da tun. Und das müssen sie auch nicht, stellt Brennan fest. Eine einzelne Stimme spielt unter 120 Millionen Stimmen keine Rolle. Der Einzelne kann mit seiner Stimme kein Unheil anrichten. Die Mehrheit freilich schon. Erst recht in einem Wahlsystem wie dem der USA, das besonders stark polarisiert.

Es geht nicht um eine Regierung der Vulkanier

Auf 400 Seiten ist viel Platz. Da kann Brennan eine ganze Menge Aspekte zur Funktionsweise der Demokratie untersuchen. Etliche Kollegen Kritiker sind aber bei seiner – recht eindrucksvollen – Einteilung der Wähler in Hobbits, Hooligans und Vulkanier hängengeblieben. Die ersten wissen weniger als nichts über Politik, geben ihre Stimme also ohne jegliches Wissen darüber ab, wen sie da eigentlich wählen und was sie damit anrichten. Die zweite Gruppe weiß ein bisschen mehr – ist aber eben genau das, was kampfbereite Fußballfans sind: Sie jubeln nur einer Mannschaft zu und erklären alles Andere zum Feindbild. Was Politik in der heutigen Gesellschaft zu etwas Fürchterlichem macht. Denn statt den mündigen Staatsbürger zu bilden, der fähig und bereit ist, mit allen anderen mündigen Staatsbürgern gemeinsam ein identifiziertes Problem zu lösen und eine für alle sinnvolle Lösung zu finden, wenden die Hooligans alle Kraft darauf, ihren eigenen Kandidaten und ihre Partei durchzupeitschen. Das Streben nach Macht sorgt dafür, dass Politik eine ganze Gesellschaft korrumpiert.

Anfangs mag man ja nicht so recht auf die Thesen dieses emsig argumentierenden Philosophen eingehen. Aber die Fakten und Umfragen, die er zitiert, kommen einem doch ziemlich vertraut vor. Seine Beschreibung des Zustandes unserer Demokratien ist richtig. Nur: Wir verdrängen das gern wieder und beruhigen uns meist mit der Vergewisserung, dass sich das alles ja doch im demokratischen Ausverhandeln irgendwie reguliert.

Tut es das wirklich?

Man darf zweifeln.

Denn die Gruppe der politisch Gebildeten, die Brennan als Vulkanier bezeichnet, ist auch hierzulande eine kleine, eine sehr kleine Gruppe. Die meisten Staatsbürger versuchen nicht einmal zu verstehen, wie unsere Demokratie funktioniert. Müssen sie auch nicht. Denn es wird ihnen einfach gemacht. Sie müssen weder über Kandidaten noch Parteiprogramme irgendetwas wissen. Sie müssen nur losgehen am Wahltag, und ihrer Lieblingsmannschaft ein Kreuz geben. Mehr nicht.

Was Politik dann zu etwas macht, was mit einer klugen Regierung nicht mehr viel zu tun hat.

Das Niveau der Wähler bestimmt das Niveau der Politik

Was aber auch eine Implikation hat, die Brennan auch benennt: Denn die Ungebildetheit des Wahlvolks bestimmt auch, mit welchen Kandidaten ihre Lieblingsclubs ins Rennen gehen und welche Kandidaten die besten Chancen haben, zu gewinnen. Das Unwissen des Großteils der Wähler sorgt dafür, dass auf den Wahlzetteln zum Teil sehr obskure Kandidaten landen. Und dass gerade Kandidaten, die diesem rein aus dem Bauch heraus agierenden Wählern nach dem Munde reden, die größten Chancen auf den Wahlsieg haben.

Deswegen stimmt auch das ganze Gerede von den heutigen Populisten nicht. Die sind nämlich gar nicht neu. Die waren schon immer da. Oder um auf Brennan zurückzukommen: Das Wahlvolk hat schon immer die Kandidaten bekommen, die es wollte.

Und das hat immer wieder zum Ergebnis, dass auch demokratisch legitimierte Regierungen Beschlüsse fassen, die überhaupt nicht rational sind, dem Land schaden, den Wohlstand mindern, ganze Bevölkerungsgruppen in Not stürzen oder diskriminieren. Die Demokratie bringt also ganz und gar nicht die bestmögliche Regierung hervor. Sie hat nur eine bessere Bilanz als alle bisher bekannten Regierungsformen. Aber das wohl eher – darauf geht Brennan auch noch ein – weil hinter den Regierenden große, zuweilen sehr eigenwillige Apparate weiterlaufen, die oft genug bremsen, ignorieren oder korrigieren, was die Narren auf der Regierungsbank gerade angerichtet haben.

Denn die Demokratie besitzt – eben anders als Diktaturen und Monarchien – eine ganze Reihe von Institutionen, die den Staat auch vor den Narreteien der Mächtigen schützen. Das vergessen fast alle Leute, die das Wesen der Demokratie immer wieder philosophisch idealisieren.

Machtgierige versuchen immer wieder, die Sicherungen einer Demokratie zu zerstören

Und wer genau hinschaut, sieht ja, wie die Machtgierigen, wenn sie denn von einem unwissenden Wahlvolk in die mächtigste Position gebracht wurden, darangehen, gerade diese korrigierenden Institutionen zu schwächen oder zu zerstören – in Polen genauso zu beobachten wie in Ungarn oder der Türkei. Keineswegs erstaunlicherweise ist die Presse immer dabei, denn diese sogenannte „Vierte Macht“ steht für das zentrale Grundrecht der Demokratie: die Meinungsfreiheit.

Darauf geht Brennan nicht ein. Aber man ahnt, welche Macht einige Spieler entwickeln können, wenn sie mit der Unwissenheit der Wähler zu spielen beginnen.

Das Stärkste an Brennans Buch (das im Grunde schon das dritte ist, in dem sich Brennan mit Sinn und Wirkung demokratischer Wahlen beschäftigt) ist diese deutliche Analyse unserer Gesellschaft. Die wissenschaftlich fundierten Studien widerlegen fast alles, was es an philosophischen „Beweisen“ zur Legitimierung der Demokratie gibt.

Das Problem ist der Mensch. So wie er ist. Er wird nicht zum idealen, gut informierten Staatsbürger, bloß weil er das Wahlrecht bekommt und mitentscheiden darf, wer künftig die Politik bestimmt. Und ähnliche Studien zum desinteressierten und nicht informierten Wahlvolk gibt es ja auch aus Deutschland. Es hat eine Menge mit Bildung zu tun. „Politik ist kein Gedicht“, spitzt Brennan an einer Stelle zu. Tatsächlich ist Staatskunst eine Profession, die eine Menge Wissen braucht – wirtschaftliches zuallererst, um mit falschen Reformen, Steuern, Regulierungen oder Deregulierungen die eigene Wirtschaft nicht vor den Baum zu fahren. Man braucht soziale Kompetenzen, längst auch Kompetenzen im Umwelt- und Verbraucherschutz. Was bei Wahlkampfreden überzeugend wirkt, kann in der politischen Praxis zur Katastrophe werden und das Gegenteil des Versprochenen bedeuten.

Wählerinteresse und Wahlverhalten sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe

Und auch das belegen Studien: Viele Wähler wählen Kandidaten, die genau das Gegenteil dessen wollen, was die Wähler sich wünschen. Sie lassen sich vom Auftreten, guten Reden oder gar nur dem smarten Äußeren der Kandidaten überzeugen – oder wählen eben einfach, was alle Fans in ihrem Club wählen, egal, was dabei herauskommt.

Wobei Wähler das nicht aus böser Absicht tun, stellt Brennan fest. Umfragen bestätigen ja auch, dass sie fast alle, wenn sie zur Wahl gehen, vor allem das Gemeinwohl im Auge haben.

Und trotzdem ist das Ergebnis eine manifeste Form der Ungerechtigkeit: Man bekommt eine Regierung, die bestenfalls nur die Interessen eines kleinen Teils der Bevölkerung vertritt. Weil sie aber regiert, kann sie nicht nur die Mehrheit dazu zwingen, Dinge zu erdulden, die diese eigentlich nicht will, sondern die gesamte Gesellschaft.

Ein Punkt, den man gern vergisst: Da werden Leute gewählt, die nirgendwo nachweisen müssen, dass sie in Staatsangelegenheiten in irgendeiner Weise kompetent sind. Das lassen wir ja nicht mal im Straßenverkehr zu. Jeder, der ans Steuer will, muss eine ordentliche Prüfung ablegen und wichtige Grundkenntnisse nachweisen.

Was tun, hat sich Brennan gefragt. Und schon seit geraumer Weile ist er vehementer Verfechter der Epistokratie, einer Einschränkung der Wählerschaft auf jene Bürger, die ein Mindestmaß an politischem Wissen haben. Er legt sich nicht fest, welche Form der Epoistokratie er bevorzugt oder wie viele diese wissenden Bürger daran teilhaben dürften.

Im Grunde könnte man – so ein bisschen tendiert er dahin – alle Bürger dazu verdonnern, eine Eignungsprüfung zu durchlaufen. Wer diesen Grundkurs mit entsprechender Prüfung durchlaufen hat, bekommt das Wahlrecht. Der Effekt wäre, dass dann nur noch Bürger wählen (und sich der Wahl stellen) können, die eine Mindestkompetenz als Staatsbürger bewiesen haben.

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.

Aber im Grunde macht Brennan deutlich, dass wir uns tatsächlich Gedanken darüber machen müssen, wie wir dafür sorgen, dass alle Wähler tatsächlich wissen, was sie tun. Denn es ist eine unübersehbare Form von Ungerechtigkeit, wenn eine deutliche Mehrheit unwissender Wähler dafür sorgt, dass eine inkompetente Regierung gewählt wird.

Und Brennan betont etwas, was eigentlich Grundkonsens einer Demokratie sein müsste: das Grundrecht der Bürger, dass sie bei einer Wahl auch eine kompetente Regierung bekommen.

Sein Lösungsangebot ist die Epistokratie.

Ende der Demokratie-Romantik

Aber das Wichtigste an seinem Buch ist die Mahnung, dass wir unsere Demokratie nicht fortwährend romantisieren dürfen, sondern die Befunde der Sozialforschung ernst nehmen müssen. Das Wahlrecht allein macht noch keine kompetenten Wahlbürger. Und leider garantiert es eben auch nicht, dass wir eine kompetente Regierung bekommen. Da gehört mehr dazu. Zuallererst eben ein Mindestmaß an Bildung und Wissen. Denn gerade weil die Mehrheit der Wähler eher nichts weiß über Politik und ihre Folgen, ist sie verführbar für Leute, die behaupten, die Dinge mit „ganz einfachen Lösungen“ im Handumdrehen lösen zu können, ohne Rücksicht auf komplexe Beziehungen, Verfassungen und Minderheiten.

Am Ende bleibt das Buch ohne Pointe. Aber es nimmt der Demokratie an sich den romantischen Schein. Es stellt die berechtigte Frage, wie wir dafür sorgen können, dass Inkompetenz keine Wahlen mehr gewinnt. Denn das haben wir alle nicht verdient. Und vor allem steht die stille Vermutung im Raum, dass wir mit kompetenteren Regierungen und kompetent besetzten Ministerien vielleicht sogar eine deutlich bessere Politik bekommen könnten als heute. Und dass wir bei Wahlkämpfen dann tatsächlich über Lösungsmodelle entscheiden und nicht jedes Mal Angst haben müssen, dass ein nationalistischer Hooligan gewählt wird, der alles zertrampelt, was wir so mühsam aufgebaut haben.

Jason Brennan Gegen Demokratie, Ullstein Verlag, Berlin 2017, 24 Euro.

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