Für FreikäuferDa ist ein Kulturgut verloren gegangen. Dunnerlüttchen! Was haben wir da nur angerichtet! Waren wir vergesslich! Haben nicht aufgepasst. Falls da mal einer fragt, was das sein soll, „deutsch“, dann kann man ihm ins Gesicht sagen: Vergesslich wie ein Scheunentor und unachtsam wie eine besoffene Kuh. Denn das zeigt dieses eigentlich ambitionierte Büchlein: Die Zungenbrecher sterben aus.

Sie gehörten vor noch gar nicht langer Zeit, so zwei, drei Generationen her, noch zu den wichtigen Dingen, die Kinder im Kindergarten und auf dem Pausenhof gelernt haben. Neben vielen wirklich kreativen Flüchen und Beleidigungen, die heute niemand mehr kennt, weil alle sich an das Deppenniveau amerikanischer Familienserien gewöhnt haben.

Dabei haben wir eine schöne zungenbrecherische Sprache, die so manchem, der sie lernen will, ordentlich Schwierigkeiten macht. Sie kann auch schmeicheln, säuseln, tirilieren, wenn wir das wollen. Die deutsche Sprache ist reich und flexibel. Und sie ist voller Spaß, wenn man sie bei den Hörnern packt und herausholt, was drinsteckt. Etwas, was Kinder lieben. Die schönsten Kinderreime und Sprachexperimente gehen der Sprache mit Herzenslust zu Leibe oder fordern die eigene Zungenbeherrschung heraus.

So wie die Schnellsprechübungen und Zungenbrecher – jene Wortgeschöpfe, die am Aussterben sind, seit Kinder damit auf Schulhöfen nicht mehr in Wettstreit treten, weil sie sich lieber über irgendwelche Markenklamotten streiten oder in die kindischen Rollen diverser TV-Geschöpfe schlüpfen.

Auch das gehört zur Tragik unserer Gegenwart, die nicht nur Neil Postman schon vor 30 Jahren registrierte: Wenn der TV-Schwachsinn zum dritten Erziehungsberechtigten wird, geht die Sprachbeherrschung verloren, der Reichtum des Wortschatzes sowieso. Ein ärmerer Wortschatz aber bedeutet eben auch, dass die jungen Menschen die vielen Möglichkeiten des Sprechens nicht mehr erleben, die Vielschichtigkeit von Sprache. Und das hat Folgen. Denn Sprache ist Grundlage unseres Denkens und Verstehens. Wer weniger Vokabeln beherrscht, kann komplexere Zusammenhänge nicht mehr begreifen, geschweige denn artikulieren. Auch das ist einer der Gründe dafür, dass viele Menschen heute nicht mehr kommunizieren können: Ihnen fehlt die sprachliche Basis zum Verstehen.

Sie sind mit den erzählten Zusammenhängen überfordert und können auch beim besten Willen nicht mehr entschlüsseln, was über den Minimalwortschatz im Alltag hinausgeht. Wie will man mit solchen Menschen über politische, wirtschaftliche oder gar wissenschaftliche Zusammenhänge reden? Sie hören mit offenem Mund zu und verstehen trotzdem nicht, worum es geht.

Lehrer könnten ein Lied davon singen, wenn sie noch Zeit dafür hätten.

Denn wenn Kinder all die nötigen komplexen Sprachfähigkeiten nicht mehr mitbringen, die sie zum Verstehen all dessen brauchen, was eigentlich in der Schule dran ist, vermehrt sich auch die Mühsal der Lehrer. Und das, was unsere Sprache alles kann, das lernt man – wenn man es lernt – spielend. So wie in diesem von Philipp Waechter illustrierten und von Moni Port bestückten Büchlein, in dem es nicht nur lauter Zungenbrecher gibt, eigentlich sogar viel zu wenige. Was daran liegt, dass sie am Aussterben sind. Denn Zungenbrecher leben davon, dass etwas ältere Kinder sie etwas jüngeren Kindern beibringen und sich dabei krumm und scheckig lachen, wenn man sich gemeinsam durch die verflixten und verzwickten Wortkaskaden heddert. „Fischers Fritze“ ist ja der berühmteste dieser schönen deutschen Zungenbrecher, der zweitberühmteste ist der „Potsdamer Postkutschenputzer“, der drin ist in diesem Büchlein. Er gehört schon zu den schwereren Zungenbrechern.

Jeder fängt mal klein an. Jeder muss üben. Etwa mit dem durchaus frechen Spruch vom Wichtel unter der Fichtenwurzel. Was er da tut, verraten wir hier nicht, auch nicht, was die klitzekleinen Katzen machen oder was Klaus Knopf besonders mag.

Sie merken es ja schon: Es geht so nebenbei auch um Stabreime und Alliterationen, Laute, Silben und Knackgeräusche, die man in unserer Sprache so herrlich auf Reihe und zum Kollidieren bringen kann. So dass man mitten im Text gar nicht anders kann als zu stolpern oder sich ordentlich zu beäumeln, weil die Wanderung der Konsonanten zwischen den Worten auch allerlei Lustiges anrichtet – zum Beispiel mit der Klapper der Klapperschlange. Es gibt ja Worte, die reizen geradezu dazu, sie mit anderen Worten die Buchstaben vertauschen zu lassen und damit die erste Behauptung am Ende völlig auf den Kopf zu stellen.

Wenn die Sprüche gut sind, fordert das nicht nur echte Zungenfertigkeit heraus, sondern auch hohe Aufmerksamkeit auf das Gehörte und Gesagte. Eine nicht gerade unwichtige Fähigkeit für später, wenn man wirklich was lernen will in der Schule und anderswo.

Aber wie angedeutet: Irgendwie scheint was zu fehlen, scheinen viele alte Kopf- und Zungenübungen vergessen zu sein, verschwunden mit der Kultur des krückenlosen Sprechens, in der Kinder mal aufwuchsen. Echte Pausenhoffrechheiten, die augenscheinlich von heutigen Medien und technischen Spielzeugen völlig verdrängt wurden.

Da sind dann wohl Eltern und Großeltern gefragt, wenn hinten im Buch die fast beiläufige Frage steht: „Fällt dir auch einer ein?“

War da nicht mal was mit “Ottos Mops”? Verflixt! Wo hab ich nur meine Gedanken.

Aber die Suche lohnt sich bestimmt.

Und im Gegensatz zu fast allen heute umlaufenden Bildungsexperten bin ich auch nach Durchblättern dieses Buches weiter der Meinung, dass Smartphones und Computer in der Schule nichts zu suchen haben. Denn jeder Muskel, den wir nicht tagtäglich trainieren, verkümmert – auch der Denkmuskel in unserem Kopf, der überhaupt nicht überfordert ist, wenn er sich mal anstrengen soll. Beim Verstehen zungenbrecherischer Sprüche zum Beispiel. Das trainiert Aufmerksamkeit und Genauigkeit – und wird irgendwann zu hörendem Verstehen, an dem es vielen Zeitgenossen so sichtlich mangelt.

Aber da unsere unaufmerksamen Zeitgenossen niemals so viel komplizierten Text auf einmal lesen, wird dieser Satz ganz gewiss unwidersprochen stehen bleiben.

Moni Port, Philipp Waechter Der Flugplatzspatz nahm auf dem Flugblatt Platz, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2017, 10 Euro.

Die LEIPZIGER ZEITUNG ist da: Ab 15. September überall zu kaufen, wo es gute Zeitungen gibt

Ein Blitzlicht in einen drögen Wahlkampf, in dem alle ungelösten Probleme unter den Tisch gelächelt werden

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar