Aus dem Tagebuch, das der spätere Pfeffermüller Hanskarl Hoerning als junger Mensch in der Nachkriegszeit führte, haben einige Publikationen schon Stoff gewonnen, die sich mit dem aus Ruinen auferstandenen Leipzig beschäftigten. Diese frühen Tagebücher liegen bei Pro Leipzig auch in dem Band „Aufgewachsen in Ruinen“ seit 2008 vor. Und wer das Becher-Lied kennt, das auch mal Nationalhymne eines verschwundenen Staates war, weiß: Mit „Und der Zukunft zugewandt“ muss es weitergehen. Und geht es auch.

Denn 1952 war ja der junge Leipziger gerade erst angekommen im Schauspielerleben. Nach Halberstadt hatte es ihn verschlagen, wo er noch die Ausweichspielstätte des dortigen Theaters kennenlernte. Das Tagebuchschreiben hielt er durch, auch wenn es dann nach seiner Heirat und seiner Familiengründung aus verständlichen Gründen deutlich weniger wurde und dann 1972 wohl tatsächlich aufhörte. Was schade ist.

Aber der junge Autor, den man auf etlichen eingestreuten Fotos auch als Schauspieler auf der Bühne sehen kann, ist sich der Ausnahmesituation des Tagebuchschreibens durchaus bewusst. Auch wenn er genauso gut weiß, dass er damit ganz bestimmt nicht unter die ganz Großen kommt. Seine frühen Tagebücher müssen gespickt sein mit solchen Überlegungen über den künftigen Ruhm. Davon träumen ja nicht nur Schauspieler oder Dichter – denn auch diese Ader hat er ja. Immerhin schreibt er später diverse Sketche, Lustspiele und Lieder.

Aber das mit Goethe und Schiller klappt nicht ganz. Deswegen hat der Autor wohl auch etliche solcher ausschweifenden Passagen lieber weggelassen in dieser Veröffentlichung. Auch wenn sie in anderer Hinsicht interessant wären: Wie ringt man eigentlich die falschen Idole in sich nieder?

Das ist schwer. Erst recht, wenn man normalerweise in der Schule keine anderen Vor-Bilder mitbekommen hat. Oder gehören der geniale Victor Klemperer und seine hohe Beobachtungskunst beim Tagebuchschreiben heute zum Lernstoff? Ich glaube nicht. Denn das ist wirklich eine Kunst: sich als ruhmsuchendes Subjekt zurückzunehmen und alles, was tagtäglich geschieht, als wichtig und aufschreibenswert zu begreifen.

Denn das ist es, was Tagebücher später wieder so spannend macht. Denn weder Zeitungen noch zeitgenössische Historiker halten das fest. Es ist ihnen zu poplig, nicht herrschaftlich genug. Und so verschwindet es und die Kinder und Enkel schauen verdattert in die Fotoalben der Großeltern und begreifen die Welt nicht mehr. Es sei denn, die Alten haben die Gelegenheit zum Sicherinnern und zum Erzählen genutzt.

Und auch und gerade diese 1950er Jahre, aus denen Hoerning noch sehr viel und sehr bildhaft erzählt, sind so eine schlecht konservierte Zeitetappe. Und Hoerning kann darüber aus der Perspektive eines Berufsanfängers erzählen, der dieses 1949 schnell nachgegründete Land bei mehreren Engagements in verschiedenen kleinen Stadttheatern erlebt, früh schon beginnt, seine Begeisterung fürs Kabarett zu entwickeln und mit den „Halberstädter Würstchen“ nicht nur erste Erfolge sammelte, sondern auch seine ersten Kulturreisen durchs Land. Samt den durchaus primitiven Verkehrsmitteln der Zeit, den Kämpfen gegen Witterungsunbilden und denen um einen zumutbaren Wohnraum für die entstehende Familie.

Und es ist nirgendwo Panik zu lesen. Ärger ja – über schlechte Unterkünfte, schlechte Ensembles, unmutiges Publikum und zu geringe Gagen.

Aber es frappiert wirklich: Obwohl sämtliche Lebensumstände mehrere Nummern schlechter sind als heute, ist die heute so allgegenwärtige Panik nirgendwo zu spüren. Selbst mit der zuweilen groben Politik der Funktionäre kommen die Personen in Hoernings Tagebuch ganz gut zurecht, reagieren wie Eulenspiegel oder mit innerster Gelassenheit, wenn man an die beiden ersten geschassten Direktoren der „Pfeffermühle“ denkt, zu der es Hoerning tatsächlich schafft nach einem kurzen Ausflug zum Fernseh-Kabarett, das zwar erste Erfolge feiert, dann aber doch eingestampft wird, weil die Fernseh-Funktionäre jeden Monat ein neues Programm auf der Mattscheibe sehen wollen.

Das schafft natürlich die beste Kabaretttruppe nicht. Im Gegenteil: Später sind selbst die Pfeffermüller verblüfft, dass sie erfolgreiche Programme bis zu 500 Mal spielen können und die Gäste im Saal (zuletzt dann schon in der schönen neuen Spielstätte am Thomaskirchhof) trotzdem lachen aus vollem Herzen. Kabarett hat damals tatsächlich funktioniert. Und nicht nur bei der Leipziger Intelligenzija, sondern sogar bei Armeeoffizieren und Parteifunktionären. Selbst durch die Kasernen im Land wurde gereist.

Es sind genau diese unkorrigierten Erinnerungen, die diese frühe Zeit der DDR lebendig werden lassen, ihre Urlaubsfreuden mit Zelt an der Ostsee oder mit Mücken im Harz und stillen Spaziergängen in Weimar, die Freuden über das erste erworbene Radio und die erste unfallfreie Fahrt mit dem Motorrad. Das Land wirkt irgendwie größer als heute, auch wenn Hoerning sogar ein paar eindrucksvolle Westreisen schildern kann. Zuweilen hat er ein paar Sätze drauf, da beißt man sich auf die Lippen, weil die ganz bestimmt zu heftigen Eingriffen der Stasi gereicht hätten – hätte die davon auch nur erfahren. Und einen vorlauten Stasibericht aus der Nachbarschaft kann Hoerning ja auch zitieren.

Aber er macht auch sichtbar, dass die drückende Stimmung im Land zuallererst von einer machtgierigen Clique ausgeht, die in Berlin meint, alles dirigieren und zensieren zu müssen. Was man ja auch aus anderen Kabarettisten-Erinnerungen (etwa der älteren Academixer) kennt: Die örtliche Nomenklatura konnte bei der Abnahme eines Programms (und die war Pflicht) durchaus zufrieden gewesen sein – wenn nur ein Genosse höherenorts glaubte, sich gemeint zu fühlen, kam das in der Regel einem Komplettverbot gleich.

Und noch etwas fällt auf: Der junge Tagebuchschreiber ist sich sehr bewusst, inmitten einer Welt zu sein, deren Ereignisse auch das kleine, erst 1961 zugemauerte Land betrafen. Der Tod von Stalin, Adenauer, Kennedy spielt in den Zeitbezügen genauso eine Rolle wie die Begeisterung über die beginnende Raumfahrt und der nachdenkliche Blick in die Nachbarländer Polen, CSSR und Ungarn, die Hoerning auch alle bereiste, mal privat, mal mit der Kabarettgruppe.

Seine etwas ironisch angehauchten Kommentare zum Zeitgeschehen hat er meistens in gereimte Strophen verpackt, von denen einige den Band spicken. Manches sind auch nur lustige Frühlings-Liebes-Gedichte. Und Hoerning lässt auch keine Gelegenheit aus, die vielen Schauspielkolleginnen und -kollegen zu würdigen, mit denen er auf der Bühne stand, da und dort mit ein paar bissigen Seitenhieben, mit denen er nachträglich die heutige Gegenwart trifft.

Etwa wenn er an die Vergesslichkeit einer ganzen Veranstaltungsmaschine denkt, die nicht mehr weiß, dass die Goldene Henne mal nach der beliebtesten Kabarettistin Berlins, Helga Hahnemann, benannt wurde. Die natürlich mit Hoerning zusammen bei den Pfeffermüllern auf der Bühne stand.

Was einen daran erinnert, dass Hanskarl Hoerning nun so ungefähr ein halbes Dutzend Bücher geschrieben hat, mit denen er die Leipziger Kabarettgeschichte lebendig hält. Denn obwohl die namhaften Kabaretts heute noch spielen, geht die große Geschichte der Leipziger Kabaretts im Leipziger Kulturalltag fast immer unter. Manchmal auch, weil manch einer nur die platte Interpretation übernimmt, sie wären eben nur zum Dampfablassen dagewesen. Und wenn zu viel Dampf abgelassen wurde, erging es den Spielern halt so wie dem legendären „Rat der Spötter“, der verboten wurde.

Solches passierte der „Pfeffermühle“ nicht. Aber dass Programme eingestampft werden mussten, kann auch Hoerning erzählen. Und er muss ein mehr als volles Pensum gehabt haben – neben den Kabarettvorstellungen auch noch diverse Muggen im ganzen Land. Man versteht schon, dass das Tagebuch nach seiner Hochzeit immer seltener Stoff zugetragen bekam. Denn die Lust, sich über das Aufschreiben auch seiner selbst immer wieder zu versichern, scheint nicht vergangen zu sein. Aber der Antrieb, der Victor Klemperer zum fleißigen Notieren und Vermerken brachte, den hatte Hoerning wohl nicht. Seine Ambitionen waren andere.

Und wenn man liest, wie schwer es ihm fiel, die Mitspieler dazu zu bringen, ihm auch anspruchsvollere Rollen zuzutrauen, kommt ja auch noch ein anderer Aspekt hinzu, den man auch fast vergessen hat: Dass diese Zeit auch noch von einem ganz anderen Akzeptieren von Autoritäten geprägt war – in der kleinen Kabarettgruppe, wo Leute wie Edgar Külow, Manfred Uhlig und Ursula Schmitter die „Zugpferde“ waren, genauso wie im Feuilleton, wo Kritiker den Maßstab setzten, deren Urteile wirklich wie Verdikte wirkten. Da war ein junger Hoerning schon froh, von einem Georg Antosch überhaupt wahrgenommen zu werden.

Auch das hat sich geändert. Und man weiß nicht so recht, ob das nur gut ist. Denn ein neues anspruchsvolles Feuilleton ist ja nicht an dessen Stelle getreten.

Tatsächlich lässt Hanskarl Hoerning die Leser hier teilhaben an den ersten 20 Jahren seiner Berufskarriere. Beinah wäre er den Pfeffermüllern sogar wieder verloren gegangen, weil die Gage nicht ausreichte. Aber dann ist er doch geblieben und hat die Bühnenprogramme (auch als Autor) bis in die 90er Jahre geprägt. Und als er dann nicht mehr auf den Brettern stand, hat er angefangen, die Bücher zu schreiben, die zu schreiben waren.

Aber das steht dann in keinem Tagebuch mehr. Es sei denn, er hätte nach 1972 irgendwann wieder angefangen und holt die vollgeschriebenen Hefte dann wie ein Zauberer aus der Schublade.

Hanskarl Hoerning „Und der Zukunft zugewandt?“, Pro Leipzig, Leipzig 2018

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 58 ist da: Ein Mann mit dem Deutschlandhütchen, beharrliche Radfahrer, ein nachdenklicher Richter und ein hungriges Leipzig im Sommer 1918

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