So richtig toll fand ja der Historiker Benjamin Hasselhorn die Feiern zu 500 Jahren Reformation im vergangenen Jahr nicht. Ihm fehlte das Streitbare, dieses Luthersche „Hier stehe ich“. Und geärgert hat er sich auch über die seltsamen Zungenschläge zum Thesenanschlag 1517. Eine ganze Reihe von Kommentatoren formulierten das Ereignis lieber so, als sei es nur eine hübsche Erfindung. Also doch kein Luther mit Hammer, Nägeln und Thesenplakat?

In den vorsichtigen Formulierungen spiegeln sich natürlich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Diskussionen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Geschichtswissenschaft hat sich ja seit Theodor Mommsen und Egon Fridell deutlich gewandelt. Überlieferungen werden hinterfragt, Quellen kritisch unter die Lupe genommen und immer wieder hieb- und stichfeste Beweise verlangt. Was natürlich berechtigt ist. Viel zu gern werden alte Mythen einfach tradiert, ohne dass die Weitererzähler nach ihrem wirklichen historischen Kern fragen.

Und so erging es auch dem Thesenanschlag von Marttin Luther am 31. Oktober 1517, am Vorabend von Allerheiligen. Wobei man sich durchaus Wittenberg als enge mittelalterliche Stadt vorstellen darf, wo sich das Volk auf den Straßen drängte. Denn zu Allerheiligen stellte der sächsische Kurfürst in der Schlosskirche seine riesige Reliquiensammlung aus. Wittenberg war ein Pilgerort und die Menschen kamen an diesem Tag, um Ablass zu finden für ihre Sünden. Wenn Dr. Martin Luther also an diesem Tag seine 95 Thesen an die Kirchentür nagelte, war ihm Aufmerksamkeit gewiss.

Nur dummerweise gab es keine Zeitungen. Kein Reporter schilderte das Ereignis in den „Wittenberger Nachrichten“. Überliefert ist es nur durch spätere Quellen. Und einige der verlässlichsten Berichterstatter waren keine Augenzeugen, berichteten nur vom Hörensagen, so wie Philipp Melanchthon, der erst 1518 nach Wittenberg kam.

Wie gesichert ist das Ereignis also? Oder hat Marttin Luther seine Thesen an diesem Tag tatsächlich nur an zwei Bischöfe verschickt und damit all das ausgelöst, was wir heute Reformation nennen?

Zusammen mit dem Historikerkollegen Mirko Gutjahr nimmt sich Benjamin Hasselhorn alle verfügbaren Nachweise vor, in denen das Ereignis direkt oder indirekt erwähnt wird. Er beschäftigt sich mit der Verlässlichkeit der Überlieferung und bezieht auch jene wichtigen Funde mit ein, die erst in den letzten Jahren bekannt wurden. Und vor allem umkreist er die Frage, was es eigentlich bringt, die so prägnante Szene mit Hammer und Nägeln infrage zu stellen, den eindrucksvollen Thesenanschlag also einfach ins Reich der Märchen zu verbannen.

Natürlich ändert es am Beginn und den Folgen der Reformation nichts. Denn auch wenn in den Augen vieler Kritiker die 95 Thesen geradezu harmlos klingen, bergen sie schon allen Zündstoff, der Martin Luther binnen kurzer Zeit in Konflikt mit dem Papst bringen sollte. Entsprechend wirkten sie ja dann auch, als sie schon 1517 als Druckerzeugnis in ganz Deutschland verbreitet wurden. Möglich, dass Luther diese Breitenwirkung nicht erwartet hat, sondern wirklich auf eine sachliche Disputation unter Kollegen gehofft hatte. Aber es folgte niemand der Einladung. Das hat Luther selbst betont. Eine Disputation der 95 Thesen fand mangels Beteiligung nicht statt.

Was die Recherche zu den Ereignissen im Herbst 1517 trotzdem nicht ganz einfach macht. Hasselhorn und Gutjahr können viele Belegstellen finden, die eine Rekonstruktion der Ereignisse erlauben und die auch einige Behauptungen entschärfen, Luther selbst habe gar „Fake news“ verbreitet, weil einige zeitliche Abläufe scheinbar nicht zusammenpassen.

Etwa der am 11. November an Albrecht Kardinal von Brandenburg gesandte Brief mit den 95 Thesen, die dieser gleich an den Papst weiterschickte. Hätte Luther den Kardinal am 31. Oktober zur Stellungnahme aufgefordert, wären elf Tage Antwortfrist auch nach heutigen Maßstäben sehr knapp gewesen, gerade bei so einem Thema, bei dem das Recht der Kirche infrage gestellt wurde, Ablässe zu verkaufen.

Es deutet, wie die beiden Historiker ausarbeiten, vieles darauf hin, dass Luther tatsächlich vorher schon versucht hat, bekannte Theologie-Kollegen zu diesem Thema zur Disputation einzuladen. Und die Quellen deuten auch darauf hin, dass die 95 Thesen tatsächlich auch am 31. Oktober in gedruckter Plakatform vorlagen – nur halt nicht, wie meist vermutet, in Wittenberg gedruckt, sondern in Leipzig. Die Leser können durchaus mit eintauchen in die Welt der Quellenforschung – und die ihrer gähnenden Lücken.

Denn selbst wenn Thesen und Streitschriften damals in (für die Zeit) beträchtlicher Zahl gedruckt wurden, haben nur wenige Exemplare (wenn überhaupt) bis heute überdauert. Und die Originale liegen meist nicht ordentlich abgeheftet im Archiv, sondern tauchen an den seltsamsten Orten wieder auf. Manchmal helfen handschriftliche Glossen in frühen Bibelexemplaren weiter, manchmal sind es ausgerechnet Druck- und Satzfehler, die beweisen, dass von einem ganz bestimmten Druck die Rede ist, der in Briefen der Zeit nur beiläufig erwähnt wird.

Es ist ein in gewisser Weise archäologisch arbeitendes Buch, das zwar den Streit um die Authentizität des Thesenanschlags aufnimmt, die Leser aber mitnimmt in die Welt jener oft unscheinbaren Belegstellen, die (wenn auch indirekt) von einem bestimmten historischen Ereignis erzählen. Den endgültigen Beweis gibt es nicht. Es stand tatsächlich kein Reporter der „Wittenberger Nachrichten“ daneben, als Luther mit Hammer und Nägeln losging, um seine Thesen am Tag vor Allerheiligen öffentlich an die üblichen Schwarzen Bretter der Wittenberger Universität zu schlagen, denn das waren die Kirchentüren damals.

Die Schlosskirche war noch lange nach Luther Ort für öffentliche Disputationen. Auch deshalb macht es Sinn, gerade diese Kirche hervorzuheben, auch wenn einige Quellen vermuten lassen, dass Luther selbst oder der hilfreiche Pedell an diesem Tag alle drei bekannten Kirchentüren mit diesem Plakat beschlugen.

Welches – auch das muss man sich ja vergegenwärtigen – auf Latein abgefasst war, also eindeutig an ein gelehrtes Publikum gerichtet war. Noch ein Indiz dafür, dass Luther erst einmal nur mit Fachkollegen über die Richtigkeit seiner Thesen disputieren wollte. Dass er damit eine regelrechte Erneuerungsbewegung auslöste, muss ihn in dieser Wucht tatsächlich überrascht haben. Auch davon erzählen Hasselhorn und Gutjahr.

Weniger wird ihn überrascht haben, dass die römische Kirche reagierte wie ein gebissener Löwe.

Und da wird ein Teil der Geschichte sichtbar, den die beiden diesmal nicht erzählen, auch wenn sie mit Luther betonen, dass Kurfürst Friedrich nichts vom Thesenanschlag wusste. Was er ja auch nicht musste, da es ja im ersten Schritt eine rein universitäre Angelegenheit war. Aber die nächsten Schritte – auch der Brief an Kardinal Albrecht – sind nur erklärlich, wenn Luther trotzdem wusste, dass er die Rückendeckung des Kurfürsten hatte. Dazu musste er mit Friedrich gar nicht reden, dazu genügte ein Gespräch mit Friedrichs Beichtvater und faktischem Kanzler Spalatin.

Was auch deshalb naheliegt, weil sich Friedrich verbeten hatte, dass Tetzel auch in seinem Reich seine Ablasspredigten hielt. Die Wittenberger liefen deshalb ins benachbarte Brandenburg, um Tetzel zu hören. Der Thesenanschlag war also auch ein Politikum, nicht nur eine Herausforderung an die weltfremd gewordene Papstkirche. Da passt natürlich dieser Luther mit dem Hammer, wie er sein Thesenplakat an die Kirchentür hämmert.

Möglicherweise eben nicht nur an die Schlosskirchentür. Da hat man es, wie Hasselhorn und Gutjahr vermuten, schon mit einer Verdichtung des Mythos zu tun. Eine konkrete Kirchentür mit großer Bedeutung klingt als Mythos immer besser, als drei Kirchentüren.

Und dass niemand über den Akt direkt berichtete, mag an etwas ganz Gewöhnlichem liegen – der Tatsache, dass das Anhämmern von Thesen an Wittenberger Kirchen damals als normaler Vorgang gesehen wurde. Das normale Volk konnte ja sowieso nicht lesen, was da auf Latein stand. Es ging immer um die Gebildeten. Und selbst die lasen ja nur, wie wir wissen, was sie lesen wollten: den frontalen Angriff auf die Gnadenerweise der Papstkirche. Daraus wollten Papst und Kurie dem renitenten Mönch aus Wittenberg ja dann einen Strick drehen oder besser: einen Scheiterhaufen errichten.

Weshalb Luther ja dann die päpstliche Bannandrohungsbulle nicht einfach zerriss, sondern vor dem Stadttor öffentlich verbrannte. Man muss nicht lange suchen, um Martin Luther auch als einen zu erkennen, der genau wusste, wie öffentliche Akte wirken müssen, damit sie auch Wirkung erzielen.

Etwas, was heute augenscheinlich selbst protestantische Kanzlerinnen vergessen zu haben scheinen. Wenn der Tetzel Schwachsinn über Videos aus Chemnitz erzählt, gehört er ins Kloster, aber nicht zum Chefberater ernannt. Augenscheinlich ist da verdammt viel vergessen worden in den vergangenen 500 Jahren. Oder die Leute lesen Luther tatsächlich nicht mehr, tun nur noch so und wundern sich dann, wenn einer wütend an die Kirchentür hämmert.

Benjamin Hasselhorn, Mirko Gutjahr Tatsache!, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018, 10 Euro.

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Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

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