So langsam mausert sich die Archiv-Reihe in der Edition am Gutenbergplatz zu einer kleinen historischen Bibliothek der Mathematik in Deutschland. Ausgehend von den großen Mathematikern, die zum Teil auch in Leipzig wirkten, wird die Reihe zu einem Puzzle der Mathematik in den vergangenen 200 Jahren. Und manchmal auch eine, die die Grenzen der Mathematik überschreitet. Mathematiker sind auch nur Menschen. Oder auch: Mathematiker sind auch Menschen.

Das „nur“ ist ja so leicht auf der Zunge. Als gäbe es unter uns welche, die etwas Besseres als „nur“ Menschen wären, also irgendwie Bessermenschen oder Edelmenschen. Wir sind schon mittendrin in der Geschichte. Denn genau das war ein Thema, das diese beiden fast gleichaltrigen Mathematiker verband, die in den 1930er Jahren zu den Begabtesten auf ihrem Gebiet in Deutschland gehörten. Aber Karin Reich geht es eher nicht um die mathematischen Forschungs- und Lehrgebiete, auf denen die beiden tätig waren.

Sie hat sich des Briefwechsels der beiden angenommen – jedenfalls jenes Briefwechsels, der noch verfügbar ist. Der größte Teil davon stammt aus den 1950er Jahren und erzählt davon, wie Helmut Hasse seinem alten Freund und Kollegen dabei half, wieder als Professor an der Universität Hamburg tätig zu werden, aus der ihn 1937 die Nazis vertrieben. Grund gewesen für dieses Arbeitsverbot war Artins Ehefrau, die aus Russland stammende Jüdin Natalie Jasny.

Artin wurde aus dem Staatsdienst entlassen und setzte kurzerhand um, woran er auch vorher schon intensiv gedacht hatte: Er emigrierte mit seiner Frau in die USA und wurde an dortigen Hochschulen mit Kusshand genommen. Zuletzt lehrte er an der Universität Princeton. Er hätte seine Karriere als anerkannter und herausragender Mathematiker also durchaus auch in den USA beenden können.

Aber auch Mathematiker sind Menschen. Nach mehreren Nachkriegsbesuchen zog es ihn unwiderstehlich zurück in seine Heimat. Anders als Natalie, die mit diesem Deutschland nichts mehr anfangen wollte und in den USA blieb. Sie war auch nicht allzu gut auf Emil Artins alten Freund Helmut Hasse zu sprechen und bezog auch mehrmals scharf gegen ihn Stellung.

Gab es dafür einen Grund?

Direkt eher nicht. Karin Reich hat sich intensiv mit den verfügbaren Akten und Unterlagen zu Helmut Hasses Wirken in der Nazi-Zeit beschäftigt, hat sich in den erstaunlich umfangreichen Ordner zu dessen Entnazifizierung hineingearbeitet, ist in ihrem Urteil zu Hasse aber eher unschlüssig. Da geht es ihr wie manchen Zeitgenossen Hasses, die den seit 1934 in Göttingen Wirkenden als Mathematiker und Hochschullehrer zu schätzen wussten. Fachlich stand sein Wirken nie zur Debatte.

Und eigentlich auch politisch nicht, was im Grunde selbst die Entnazifizierungskommission mehr oder weniger zugab, auch wenn sie den nach dem Krieg in Göttingen Gefeuerten zeitweilig als echten NSDAP-Aktivisten kennzeichnete, wogegen sich nicht nur Hasse verwehrte. Einziger Grund für die Einstufung: Sein Versuch von 1938, Mitglied der NSDAP zu werden.

Doch die Nazis wollten ihn nicht, denn der Mathematiker hatte „ein Sechzehntel“ jüdischer Abstammung (sie redeten zwar von Blut, aber das ist ja nun wirklich wissenschaftlicher Quatsch). Dieses Sechzehntel an Verwandtschaft verband Hase mit der bis heute berühmten Familie des Berliner Philosophen Moses Mendelssohn, aus der ja bekanntlich auch Fanny Mendelssohn und Felix Mendelssohn Bartholdy entstammten.

Eigentlich eine Verwandtschaft, über die kluge Leute regelrecht begeistert wären.

Für Hasse bedeutete das lediglich, dass sein Gesuch, in die NSDAP einzutreten, abgelehnt wurde. Was dann die Entnazifizierungskommission gegen ihn auslegte. Dass selbst die Mitglieder der Kommission keine so persilreinen Westen hatten, wird ebenso deutlich. Sie konnten auch keine Belege beibringen, dass Hasse dem Naziregime besonders eifrig gedient oder gar andere Menschen geschädigt hatte. Im Gegenteil: Viele Stellungnahmen bekannter Kollegen bescheinigten Hasse, dass er sich gegenüber jüdischen und staatskritischen Kollegen loyal verhielt, sie sogar förderte und Freundschaften aufrechterhielt. Und auch seinen Lehrstuhl verwaltete er wohl so, dass es vor allem um fachlich begründete Stellenbesetzungen ging.

Im Entnazifizierungsverfahren irrlichtert auch noch das Treiben der Göttinger Akademiker gegen den von ihnen 1934 ungewollten Mathematikprofessor. Er war der Studentenschaft nämlich nicht nationalsozialistisch genug. Hasse machte gegen alle Widerstände sein Ding. Was für ihn bedeutete, Göttingen weiter als exzellenten Mathematikstandort zu profilieren.

Und mehr oder weniger erzählen dann die Entnazifizierungsprotokolle davon, dass sein Verhältnis zu den Göttinger Kollegen eher auf der persönlichen Ebene völlig zerrüttet war. Sie wollten ihn unbedingt loswerden. Logisch, dass er auch in den Folgejahren darum kämpfte, dass das Verdikt der Entnazifizierungskommission zurückgenommen wurde. Denn damit wurde er zum Mittäter gemacht, der er – gerade im Vergleich zu vielen anderen, die im geteilten Land schnell wieder Karriere machten – ganz bestimmt nicht war.

Der Knackpunkt, der wohl auch Natalie Aretin verstörte, war seine nicht verhehlte nationale Positionierung. Selbst im Gespräch mit den englischen Kommissaren scheint er vehement versucht zu haben zu erklären, warum er auch nach diesem Krieg an einer deutschnationalen Position festhielt und trotzdem kein Nazi war. Was zumindest wunderlich anmutet, wenn er an anderer Stelle immer wieder beteuert, kein politisch denkender Mensch zu sein.

Das erinnert doch sehr an die Gegenwart und manche forsche Positionierung vieler Zeitgenossen auf stramm nationalen Positionen, ohne dass dahinter auch nur ein Hauch an ernsthafter Beschäftigung mit Politik und ihren Wirkungen steckt. Man steht eben für irgendwas ein, bläst es dem Gesprächspartner auch mutig ins Gesicht – aber dass nationale Überheblichkeit fast zwangsläufig in eine Katastrophe wie mit Adolf Hitler führt, scheint undenkbar. Kann man so naiv sein?

Womit Hasse übrigens nicht untypisch ist für seine Generation. Auch wenn andere Leute nach diesem desaströsen Krieg vorerst wohl lieber die Klappe hielten und sich lieber als Widerstandskämpfer gerierten. Was selbst Kollegen Hasse hoch anrechnen, dass er sich so nicht verhielt. Er stand zu seiner nationalen Denkweise – sah darin aber nie einen Hinderungsgrund, sich menschlich anständig zu verhalten. Oder gar Kollegen aus den späteren Feindstaaten Frankreich und USA zu meiden oder gar zu düpieren.

So gesehen also typisch: Ein Mann, der im Nationalismus des Kaiserreichs aufgewachsen war, im Ersten Weltkrieg gedient hatte und den Vertrag von Versailles als nationale Katastrophe empfand. Womit er nicht allein war. Diese Ansicht teilten in der Weimarer Republik Millionen Menschen. Hitler profitierte von diesem Gefühl der Erniedrigung. Mit Emotionen macht man Politik.

Nur kam Hasses unverstellter Nationalismus auch bei den britischen Besatzern schlecht an. Sie hörten den Ton – und akzeptierten ihn nach diesem neuen blutigen Krieg nicht mehr. Garantiert auch, weil sie im deutschen Nationalismus die Ursache allen Übels sahen. Man kann es eigentlich nur zu gut verstehen.

Und während augenscheinlich die Göttinger die Gunst der Stunde nutzten, um einen ungeliebten Kollegen loszuwerden, nutzte die Universität Berlin in Ostberlin die Gelegenheit, mit Hasse einen der profiliertesten Mathematiker der Zeit zu berufen. Und wenig später warb auch die Universität Hamburg um den Mathematiker, sodass Hasse dann 1957, als Artin nach Deutschland zurückkehren wollte, schon entscheidend helfen konnte, um ihm eine neue Professur in Hamburg zu verschaffen.

Bleibt noch die Frage: War das wirklich eine Freundschaft? Von Artins Seite, der augenscheinlich lockerer im Umgang mit Mitmenschen war, noch eher als von Hasses, der sogar schnell vergaß, dass Artin ihm das Du angeboten hatte. Er hielt auf Distanz, blieb auch in seinen Briefen respektvoll und zurückhaltend, sodass man über sein persönliches und familiäres Leben eigentlich nichts erfährt.

Das heißt: Auch die Briefe dieser beiden Männer bestätigen eigentlich, dass Hasse ein Mann war, der auf Distanz wert legte. Vielleicht aus seiner konservativen bürgerlichen Erziehung heraus, vielleicht auch, weil er persönlich nicht angreifbar werden wollte. Zumindest kann man es so lesen.

Und da Stellungnahmen und Gutachten im Anhang ausführlich beigegeben sind, spiegelt sich dieses Bild auch in den Sichtweisen seiner Mathematikerkollegen, die ihm auf seinem Fachgebiet höchste Achtung zollen, ihm aber auch einen respektvollen Umgang mit anderen attestieren.

Beide Mathematiker – Emil Artin wie Helmut Hasse – genießen bis heute hohe Wertschätzung in Mathematikerkreisen. Trotz alledem. Oder vielleicht auch gerade. Denn die Nachgeborenen dürfen sehen, was die Zeitgenossen als unlösbaren Konflikt betrachten wollten. Karin Reich bringt es so auf den Punkt: „Zwischen beiden, Artin und Hasse, stand die Wand, die während des Dritten Reiches errichtet worden war bzw. die die Nachwelt dort sah. Für Artin und Hasse aber existierte diese Wand gar nicht; es gab nichts, was sie trennte.“

Wobei die Briefe so respektvoll sind, dass man eigentlich nicht sagen kann, ob die „Wand für sie nicht existierte“. Möglicherweise unterhielten sich die beiden darüber lieber zu zweit bei Gesprächen in Hasses oder Artins Wohnung, wo sie sich auch Dinge sagen konnten, „die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“ waren. Kollegial waren sie tatsächlich auf einer Wellenlänge. Und nicht nur Hasse trauerte über den frühen Tod Artins schon 1962.

Dass die Briefe kaum Persönliches verraten, bietet natürlich Stoff für allerlei Vermutungen. Der Briefwechsel ist ja schon in unterschiedlichster Form (auch auf Englisch) veröffentlicht worden. Die Nachlässe beider Mathematiker liegen heute übrigens in Göttingen.

Und während man vom einen das Hasse-Diagramm und die Hasse-Arf-Theorie kennt, werden vom anderen die Artin-Vermutungen noch Generationen von Mathematikern beschäftigen.

Karin Reich Der Briefwechsel Emil Artin – Helmut Hasse , Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2018, 26,50 Euro.

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