Leipzig liegt nicht im Rheinland. Deshalb haben Karnevalsumzüge hier scheinbar keine Tradition. Und wenn mal eine kleine Tradition entsteht, reicht ein kleiner Verwaltungsschnupfen und alles steht wieder infrage. So wie der Rosensonntagsumzug, über den in den vergangenen Jahren auf einmal eine Kostendebatte entbrannte. Der Stadtreinigung war das Saubermachen nach dem Umzug zu teuer. Da kann auch Thomas Mothes nur den Kopf schütteln, der die Leipziger Rosensonntagsumzüge lieben gelernt hat.

Die eigentlich Tulpensonntagsumzüge heißen müssten, wenn man sie im kirchlichen Kalender richtig einordnet. Aber der Rosenmontag ist im protestantischen Sachsen nun einmal kein Brauch­tumstag, sodass die Leipziger Karnevalisten eben am Sonntag davor zum Umzug durch die Innenstadt einladen – mit Konfetti und Kamellen, wie es sich gehört. Und sie ziehen nicht allein mit Kapelle, Funkenmariechen und Themenwagen durch die City, sie bekommen jedes Jahr auch Verstärkung durch Karnevalsvereine aus der näheren Umgebung – aus Markkleeberg, aus Gruna an der Mulde oder aus Beilrode. Die Beilroder ziehen schon seit Jahrzehnten durch ihr Dorf, aber seit in Leipzig die Oldtimer zum Rosensonntagstreiben aufgemöbelt werden, nutzen sie die Chance, in Leipzig mitzufeiern und den Übermut auf die Straße zu tragen.

Thomas Mothes, Biochemiker von Profession und bis 2018 Professor an der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig, ist auch begeisterter Fotograf. Besonders angetan hat es ihm die Farbfotografie. Und deshalb stolperte er 2000 auch nicht so ganz zufällig in den ersten Rosensonntagsumzug der Leipziger Karnevalsvereine: Er wollte Farben ins Bild, Leben in die Fotos. Mit lauter farbenfroh gekleideten Karnevalisten und einem oft ebenso bunt verkleideten Publikum am Straßenrand bekommt man das ja.

Da muss man nur nah genug herankommen und auch manchmal dem einen LVZ-Fotografen vor der Linse herumturnen. Und man kann sammeln. Und Mothes hat gesammelt. Fast alle Rosensonntagsumzüge seit 2000 habe er begleitet, schreibt er – bei Regen und bei Sonnenschein. Und am Ende waren seine Festplatten so vollgepackt mit Karnevalsbildern, dass er überlegt hat, was er mit dem ganzen Material eigentlich anfangen soll.

Vor allem, weil es ja sichtlich noch kein Buch über den Leipziger Karneval gibt. Auch kein historisches. Auch wenn es so etwas Ähnliches, wie man es aus dem Rheinland oder Schwaben kennt, in Leipzig auch schon im 15. Jahrhundert gab. Damals war Leipzig ja bekanntlich noch „katholisch“ und die „Mummerei“, wie sie in alten Akten genannt wird, fand ihren Platz im Festtagsreigen des Jahres, auch wenn es ein von der Kirche sehr ungewolltes Fest war, das möglicherweise auch noch weiter in der Geschichte zurückreicht.

Denn diese vermummten Umzüge durch die Stadt waren ganz unübersehbar ein Ventil – gerade die jungen Burschen in der Stadt ließen einmal im Jahr so richtig die Sau raus, warfen alle Fesseln von Sitte und Konvention über den Haufen und tollten, lärmten und soffen sich wohl auch durch die Stadt. Und überliefert ist das nur, weil der Stadtrat immer wieder ungnädig auf diese massiven Ordnungsverstöße reagierte und weil etliche Fälle (auch Todesfälle) in Gerichtsakten ihren Niederschlag fanden.

Gerade Jungfrauen vermieden es damals besser, sich den wilden Gesellen auf der Straße zu zeigen. Für gewisse Tage muss die Stadt einem Tollhaus geglichen haben. Und das Treiben galt wohl bei den jungen Männern auch als ein Gewohnheitsrecht. Sie ließen sich von Verboten nicht einschüchtern. Erst der Dreißigjährige Krieg beendete die Tradition. Krieg und Seuchen ließen das wilde Treiben sang- und klanglos verschwinden.

Was später kam, waren immer wieder bürgerliche Versuche, in Leipzig wieder neue Formen des Karnevals zu etablieren. Ab 1867 scheinbar sogar erfolgreich – samt Umzug durch die Stadt. Doch gerade die beiden kommenden Diktaturen sorgten dafür, dass sich das tolle Treiben doch wieder hinter verschlossene Türen zurückzog, auch wenn sie es beide nicht vermochten, dem unbändigen Wunsch nach echter Ausgelassenheit einen Riegel vorzuschieben.

Das alles erzählt Mothes im Vorwort. Kenner der Leipziger Karnevalsgeschichte haben ihm ordentlich Stoff dazu beigetragen, sodass die Leser dieses Buches auch eine kleine Leipziger Karnevalshistorie bekommen. Bis hin in die DDR-Zeit, als es die Studierenden vor allem an der heutigen HTWK und am Institut für Veterinärwissenschaften waren, die Karnevalsveranstaltungen wieder zur Tradition machten und richtige Elferräte etablierten. Aber schon in den 1980er Jahren etablierten sich auch die ersten nicht-studentischen Karnevalsvereine, die in Klubhäusern und Dorfgasthöfen wieder Freiräume schufen für den fröhlichen Bruch mit den herrschenden Sitten und der herrschenden Moral.

Mothes hat sie fast alle auch während der Proben besucht. Und er hat damit etwas ins Bild geholt, was so gern vergessen wird in unserer ordentlichen Welt und unserer ordentlichen Stadt: wie viel Begeisterung Menschen, die sonst brav ihrer Arbeit nachgehen, in ein paar große Tage der Ausgelassenheit investieren. Von der mittelalterlichen Mummerei ist das alles wahrscheinlich um Welten entfernt. Hier wird geprobt, geschneidert, geübt und organisiert – alles in Ehrenamt, nach Feierabend, am Wochenende.

Nirgendwo wird der Ausbruch aus den täglichen Konventionen so ernsthaft erarbeitet wie in Leipzigs Karnevalsclubs. Und gerade deshalb werden sie für alle, die mitmachen, zum gesellschaftlichen Brennpunkt. Es ist wirklich so ein lebendiges „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein …“. Und zwar nicht nur zu vier großen Veranstaltungen im Jahr und einem Umzug durch die Leipziger Innenstadt, sondern auch zu vielen, vielen Proben, die spätestens nach dem 11.11., der offiziellen Rathausschlüssel-Übergabe im Rathaus, beginnen und dann im Februar ihren Höhepunkt erleben, wenn einige der großen Leipziger Säle tagelang wackeln, weil drinnen der Bär tobt, die Garde tanzt und echte Laien-Redner sich in der Bütt in Schwung reden.

Und all das erzählt natürlich von einem tiefen Bedürfnis auch der heutigen sonst so fleißigen Bürger, wenigstens an ein paar Tagen im Jahr den ganzen Menschen zeigen zu dürfen, alle Fesseln abzuwerfen und mit ganzer Begeisterung frei und fröhlich zu sein.

Und in vielen von den Fotografien, die Mothes in diesem Band versammelt hat, wird diese unbändige Ausgelassenheit sichtbar. Und ein paar Mal zitiert er auch jenen anstrengenden Spruch, der im Gewandhaus alle Eintretenden daran erinnert, dass jede Freude erst einmal eine ordentliche Anstrengung ist. Bei den Karnevalisten trifft es zu: Sie haben am Ende wirklich ihren Spaß, die Anstrengung wird belohnt – auch weil sie nicht perfekt sein müssen. Verhopser und Verspieler stören nicht die Freude am gemeinsam Ausbaldowerten.

Und eigentlich sind Mothes’ Bilder eine Einladung an alle, denen der Spaß im Leben abhanden gekommen ist, sich einfach bei einem dieser Vereine anzuschließen. Und sei es nur als hilfreicher Unterstützer, wenn man sich nicht selbst auf die Bühne traut. Denn dazu braucht es natürlich auch ein bisschen Mut und Selbstvertrauen.

Nachwuchs können die Vereine alle gebrauchen. Und es sieht ganz so aus, als würde sich der Karneval in Leipzig jetzt dauerhaft etablieren, nicht mehr so wild wie im Mittelalter, aber als ein Ort der Ausgelassenheit, der schon mächtig auffällt in einer Stadt, die zunehmend brav, ordentlich und grimmig wird. So emotionslos, dass man sich durchaus manchmal fragt, wo die Leipziger ihr Lachen und ihre Lebensfreude gelassen haben. Einige finden sie jedes Jahr wieder, wenn die Programme zur Aufführung reifen und die Wagen geschmückt werden für den einen wirklich freudetrunkenen Tag, an dem die Innenstadt einmal nur den Narren gehört.

Thomas Mothes Leila Helau, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 16 Euro.

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