Im vergangenen Jahr hat er seinen 80. Geburtstag gefeiert: der Leipziger Dichter Peter Gosse. Und die Gelegenheit hat er gleich genutzt, auch so eine Art Abschiedsbuch für seinen Enkel zu schreiben. Bei Enkel denkt man ja an ein kleines Bürschlein mit Windel und Lätzchen. Aber dieser Enkel ist selbst schon ein gestandener Mann und verträgt augenscheinlich auch eine große Packung Unverblümtheit von seinem Großvater.

Der aber ist irgendwie in Abschiedsstimmung. Mit 80 knirscht es ja schon im ganzen Körper. Da kann man nicht wirklich darauf rechnen, noch viele Bücher und gute Gedichte schreiben zu können. Aber noch kann man sich aufraffen, sich immer wieder an den Computer zu setzen und alles aufzuschreiben, was einem so durch den Kopf geht, wenn man versucht, dem Enkel das Wichtigste aus dem eigenen Leben zu erzählen.

Aber das Gedächtnis ist trügerisch. Es führt auf Ab- und Umwege. Und bei den schönsten Erinnerungen bleibt es hängen und gerät ins Schwärmen, so wie man das von Gosse kennt, der als Dichter immer der Sänger der unverhüllten Liebesfreuden war. Der Satyr unter den sächsischen Dichtern, mit denen er das Bewusstsein für die strenge lyrische Form teilt, die so ergiebig ist, wenn man sie beherrscht.

Auch das kommt nicht zu kurz – etwa in dem Kapitelchen, in dem er sich mit dem beliebten Zeilensprung beschäftigt, den die Vertreter/-innen der Sächsischen Dichterschule, zu der auch Gosse gehört, ja aus blanker Not bis zur Perfektion getrieben haben. Denn wer die Worte über die Zeilenklippe springen lässt, macht Unsagbares sagbar, bricht den Sinn ganzer Verse und sorgt dafür, dass der Leser ins Stutzen kommt.

Was ja übrigens einer der Gründe dafür war, warum Lyrik in der DDR gern und viel gelesen wurde. Und auch wirksam wurde. Auf diffizile Art. Gosse erzählt zwar auch von den verschiedenen Generationen ostdeutscher maßgeblicher Dichter. Er gehört zur Generation der Braun, Mickel, Kirsch und Jendryschik, ist also – so aus östlicher Dichterperspektive betrachtet – auch ein alter Sechziger.

Ein Begriff, den man besser versteht, wenn man Gosses Erinnerungen an seine Moskauer Studienzeit liest, in der er mitten hineinkam in die sowjetische Tauwetter-Periode, als die zaghaften Reformen Chruschtschows im ganzen Sowjetreich die Hoffnung aufkeimen ließ, nun würde endlich Abschied genommen von der Stalinschen Eiszeit. In der Sowjetunion füllten Dichter mit kühnen Gedichten Hörsäle und Stadien. Jene Dichter, die als Sechziger in die Literaturgeschichte eingingen: Jewtuschenko, Wosnessenski, Achmadulina …

In Moskau hatte Gosse ja solche Lesungen miterlebt. Und ein wenig von diesem Aufbruch leuchtete ja auch in der DDR, machte Dichter mutig und erweckte die Aufmerksamkeit der Staatsorgane, über die Gosse auch schreibt. Es ist nicht wirklich ein gemütliches Opa-erinnert-sich-Buch geworden, auch wenn die ersten der 88 kurzen Kapitel den künftigen Dichter als kleinen Steppke beim Indianerspielen in Eutritzsch zeigen. Daher kommt der Titel: Pemmikan. So heißt das Trockenfleisch der nordamerikanischen Indianer, hergestellt aus Bison, zäh und eher fürs Überleben wichtig als zum genussvollen Verzehr geeignet.

Obwohl Gosses Erinnerungen eigentlich das Gegenteil von zäh sind, er betont es in den letzten Kapiteln auch mehrfach: Sein Leben empfindet er als ein glückliches und glücksvolles. Und dazu haben ganz bestimmt viele Frauen beigetragen, die ihn die Fülle des Lebens und der Liebe erleben ließen. Das bricht auch in diesem Buch durch, in dem etliche Kapitel so gar nicht die Erinnerungen eines Großvaters sind, der sein Leben und Wirken als Dichter und Literaturdozent versucht in ein durchwachsenes Jahrhundert einzuordnen.

Und auch sich selbst einzuordnen versucht, denn als alter Sechziger erlebte er in der DDR noch eine Aufbruchstimmung, in der auch die kritischen unter den Dichtern das Experiment einer gerechten und gleichmachenden Gesellschaft aus vollstem Herzen bejahten. Nicht weil sie das Agieren der SED-Regierung für so bewundernswert hielten, sondern weil sie ihre Vision für eine mögliche andere Gesellschaft bei Leuten wie Bloch gefunden hatten, bei Brecht und Hermlin, aber eben auch in den fast hymnenhaften Rebellionen der sowjetischen Dichter.

So begreift Gosse seine Altersgenossen auch als jene Dichtergeneration, die die DDR noch als einen Aufbruch in eine mögliche Utopie begreifen konnte. Schon mit den jüngeren Dichtern – Wolfgang Hilbig oder Uwe Kolbe – war der Rausch vorbei, kamen die „Hineingeborenen“ zu Wort, die die DDR in ihrem gräulichen Zustand als das real Existierende erfuhren und nicht wirklich viel Anlass darin fanden, dieses Gräuliche auch noch zu feiern.

Wobei die Sechziger auch im Nachhinein nicht als Abnicker und Jasager in den Geschichtsbüchern stehen. Gosse gehörte zu den vier mitteldeutschen Dichtern, die in Halle ihre Erklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns verfassten und zeitweilig um ihre Existenz im überwachten Staat bangen durften. Aber nur kurz. Gosses Studenten rebellierten wohl und drohten, das Literaturinstitut zu verlassen. Gosse durfte bleiben und die Literaturstudierenden mit seiner Erfahrung der barocken Sprachfreude bereichern.

Für einen großen Unruhestifter hält er sich auch im Nachhinein nicht. Ein Dickschädel wie Erich Loest, mit dem er einst vom Hochhausbalkon über das graue Leipzig schaute, war er nicht. Dafür war er auch nicht der Typ. Man merkt es ja beim Lesen: Das ist typischer Gosse-Stil – spielerisch und verspielt, hochbelesen und immer wieder wortformend, ausdeutend und bildschwelgend. Ein Stil, der nicht ganz untypisch war für die DDR-Literatur, die Gosse – wohl zu Recht – für etwas in der Weltliteratur Besonderes und Bewahrenswertes hält.

Er nennt einige Namen von Schrifteller/-innen, die er seinem Enkel ans Herz legt, unbedingt zu lesen. Sein Leben erscheint in diesen 88 Kapiteln eher punktiert. Es gibt auch Stellen, an denen er beschreibt, wie er sich noch zum konzentrierten Arbeiten zwingen muss und auch zwingt. Der Kopf ist noch hellwach. Und man merkt auch, wie der Sprachsimulator noch arbeitet, wie er bei jedem Satz prüft, wie er diesen noch dichter und doppelbödig machen kann, weitere Farbsplitter und Assoziationen hereinholen kann, gerade da, wo er sein dionysisches Lebens- und Freiheitsgefühl beschreibt.

Denn solche kleinen Szenen, wie er sie um das Thema Liebe und Begehren an mittelmeerischen Gestaden malt, erinnern an ganz ähnliche Texte in der zuweilen tiefpoetischen DDR-Prosa. Das Land war groß genug, um die ganze Welt auch im Kleinen entdecken zu können, aber nicht groß genug, die grenzenlose Freiheit des Seins vergessen zu machen.

Man konnte auch an der in Schkeuditz wahrnehmbaren Grenze zwischen dem Königreich Sachsen und der preußischen Provinz Sachsens Welt begreifen. Womit Gosse etwas auf den Punkt bringt, was in der DDR-Literatur sogar als Grundkonsens galt. Erstaunlich also, dass heute kleinnationale Dumpfnasen im Osten die Stimmung angeben. Woher haben die das?

Aus der Dichtung der Sächsischen Dichterschule ganz bestimmt nicht. Gosse: „Kränkte ich, Lieber, nicht mein zeitweiliges Zugegen-Sein, wenn ich mich als Lokal-Gestimmter, als Landstrichler empfände? Wie denn nationell fühlen, wie sich weniger denn ein Erde-Bürger spüren?! (…) Die Sonne, unter der zu sein solange sie noch ist – als genössest Du es nicht! Und umso mehr genössest, als sie allen scheint!“

Das ist die ganz große Geste, die irgendwie 1990 gleich mit entsorgt wurde. Die große Welt im Kleinen, oder – um einen bildhaften Gosse-Titel zu nennen: „Weltnest“.

Aber man merkt, wie der große Alte schon bedauert, dass das Auf-Erden-Sein so kurz und begrenzt ist. Mehrfach mahnt er, der Jüngere und/oder die Geliebten sollten es auskosten, mit allen Sinnen erleben. Man bekommt nur eins davon. In diesem Sinne ist das Buch auch geschrieben, auch wenn es am Ende sehr nach Abschied klingt und der Großvater schon Töne anstimmt, die wie ein Winken aus dem Jenseits klingen. Augenscheinlich bringt einen so ein 80. Geburtstag auf jenseitige Gedanken. Aber für den Enkel wurde es ein besonders persönliches Buch von diesem liebe- und lebenshungrigen Großvater.

Peter Gosse Pemmikan, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 16 Euro.

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