Er hat sogar einen Eintrag auf Wikipedia: Albrecht Ludwig Berblinger (1770-1829). Die meisten kennen den Mann eher als „Schneider von Ulm“, diesen Tollkühnen, der glaubte fliegen zu können, gar vom hohen Ulmer Münster – und dann abstürzte, wie in Brechts bekanntem Gedicht von 1934. Fast erwartet man vorm Ulmer Münster eine Platte im Boden, die bezeichnet, wo der übermütige Schneider aufprallte.

Natürlich gibt es keine solche Platte. Und vom Ulmer Münster ist Berblinger 1811 auch nicht gestartet, sondern von der Adlerbastei, Station Nr. 32 auf Christina Meinhardts flotter Tour durch das schwäbische Ulm und das auf der anderen Donauseite gelegene bayerische Neu-Ulm. Ein Jahr zuvor hatten beide Stadtteile noch zueinandergehört. Aber 1810 wurde in der Donaumitte die Landesgrenze neu festgelegt. Die Ulmer verloren ihre Viehweiden und die Bayern machten aus dem Vorort eine eigene Stadt. Berblinger wäre also, hätte er es geschafft, von Württemberg nach Bayern geflogen.

Doch er landete im Fluss. Eine Geschichte, die Christina Meinhardt natürlich erzählt – mitsamt der Vorgeschichte. Denn – so betont sie extra im Vorspann – die Ulmer sind Tüftler. Und Berblinger war auch einer. Und bevor man ihn dazu verdonnerte, vor den Augen des Königs von der Bastei aus über den Fluss zu segeln, hatte er durchaus erfolgreich seine Gleiter getestet. Lange, lange vor den viel berühmteren Brüdern Lilienthal. Und es klappte wohl auch.

Nur dass man ihn über den Fluss fliegen lassen wollte, erwies sich als falsch gedacht, was 200 Jahre später seine Nachahmer mit herrlichen Wasserlandungen ebenfalls erleben sollten. Überm Fluss fehlten die nötigen Aufwinde, stattdessen gab und gibt es vor allem Fallwinde, die für eines sorgen: Dass jeder Gleiter runter aufs Wasser gedrückt wird. Das konnte Berblinger noch nicht ahnen. Die Zuschauer und Rechtbehalter erst recht nicht. Aus dem Star ihrer Gafflust machten sie einen Versager. Den Ruf wurde er nicht mehr los und starb verarmt in Ulm.

Was lernt man daraus?

Der Mensch kann wohl fliegen lernen. Aber daran hindern ihn vor allem die ewigen Besserwisser, Rechthaber und Nörgler. Das ist noch heute so. Wer scheitert, bekommt Spott und Häme kostenlos dazu.

Heute spotten die Ulmer nicht mehr. Auf jeden Fall nicht über ihren berühmten Schneider. Sie wissen, dass man auch ganz anders scheitern kann, so wie die eifrig mitjubelnden Deutschen unter Adolf, dem Großmaul, der die Deutschen in den größten und dümmsten Krieg der Weltgeschichte führte. In dem am Ende die wichtigsten deutschen Städte in Schutt und Asche gelegt wurden. Auch Ulm.

Nur das Münster blieb stehen, erfahren wir in diesem Stadtrundgang, die Kirche mit dem höchsten Kirchturm Europas, den man sich aber nicht vorstellen darf, wenn man den mutigen Schneider hinaufschauen lässt. Denn der Turm war in der Höhe noch gar nicht fertig, als Berblinger seine Gleitversuche machte. Fertig war das von den Ulmern ganz allein geplante und finanzierte Münster erst 1890. Der Turm ist über 160 Meter hoch. Das ist höher als der Leipziger Uni-Riese.

Und man kann nicht mit dem Fahrstuhl hochfahren, sondern muss Treppen steigen, um auf die Aussichtsplattform in 140 Meter Höhe zu kommen. Das erwähnt Christina Meinhardt lieber nur. Sie scheint dann doch lieber auf dem Boden geblieben zu sein. Gibt ja genug zu bestaunen auch an einem Tag in Ulm und Neu-Ulm. Angefangen mit der Landschaft rund um den Markt, der den Ulmern – bombenbedingt – leider nicht in alter Schönheit erhalten blieb.

Das Rathaus steht noch. Drumherum aber stehen viele mutige Architekturen der Moderne, die durchaus zeigen, dass man gar nicht langweilig bauen muss, wenn man mal was Modernes baut. Hier begegnet man auch den Geschwistern Scholl, die aus Ulm stammen, auch wenn sie ihren mutigen Protest dann in München durchzogen. Schon hier gibt es mit der Kunsthalle Weishaupt und dem Museum Ulm die ersten sehenswerten Ausstellungen – im letzteren dann gar den berühmten, 40.000 Jahre alten Löwenmenschen, eins jener Fundstücke, die von der langen Besiedlung jenes Fleckchens Erde erzählen, auf dem heute Ulm steht. Oder eigentlich seit 1.000 Jahren steht.

Vielleicht sogar 1.200, denn 854 wurde Ulm als Pfalz der Karolinger erstmals urkundlich bestätigt. Später wurde es gar Reichsstadt. Und von diesem Stolz erzählt dann das ganze fast noch mittelalterliche Stadtgebiet an der Blau, einem stillen Nebenflüsschen im Stadtgebiet, das Christina Meinhardt zwischen den Stationen 8 (unterm Metzgerturm) und 16 (Weinhof) fast schwärmend durchquert. Hier, wo einst die Gerber, Müller und Schiffer ihr Gewerbe betrieben, ist heute der liebevoll restaurierte Ort, an dem es sich die Ulmer in gemütlichen Höfen und Gassen wohl sein lassen. Samt schiefem Turm (der Metzgerturm) und schiefem Haus direkt am Fluss.

Und auch nach der ausgiebigen Besichtigung des Münsters (Nr. 21) erlebt man ein Stück alten und deshalb auch besonders heimeligen Ulms mit Rabengasse (Nr. 22), Herrenkellergasse (Nr. 23), dem Brauhaus „Drei Kannen“ (Nr. 26), den Grabenhäusles (Nr. 27) und dem Seelturm (Nr. 28), bevor man dem nächsten berühmten Ulmer begegnet: Albert Einstein. Auch wenn der nur seine ersten Monate in Ulm erlebte. Eine skurrile Plastik ist es trotzdem wert. Denn das korrespondiert so schön, denn gleich darauf kommt man ja zur Adlerbastei und zum berühmten Schneider, bevor man mit der Führerin über die Herdbrücke hinüber nach Neu-Ulm und Bayern marschiert, wo man sich noch schnell zwei Kirchen und das Rathaus anschaut, bevor man eiligst zum Donauufer und zur Fähre eilt. Wohin nun?

Meistens bieten diese Stadtführer noch Ausflugstipps in die nähere Umgebung. In diesem Fall steht noch das Kloster Wiblingen mit seiner barocken Pracht im Angebot oder – das wohl eher ein eigener Tagesausflug – die einstige Bundesfestung Ulm/Neu-Ulm, mit der sich die alten deutschen Festungsbauer schon 1842-1859 meinten, gegen die Franzosen wappnen zu müssen. Wirklich gebraucht wurde die Festung nie, außer zum zeitweiligen Kasernieren der armen Wehrpflichtigen diverser Zeiten oder auch mal – bei Kriegsgelegenheit – diverser Kriegsgefangener.

Es kümmern sich trotzdem ein paar Denkmalfreunde um diese klotzigen Forts und Festungsbollwerke, in denen das eigentlich Interessante wohl eher das Donauschwäbische Museum in der Oberen Donaubastion ist. Denn das erfährt man hier in Ulm: Wie die Ulmer in der Geschichte nicht nur ihre berühmten Holzkähne bauten, mit denen sie Holz und andere Waren donauabwärts schickten. Von hier kamen auch im Mittelalter die Schwaben, die weiter unten an der Donau Land besiedelten und dann zu den Donauschwaben wurden.

Alles fließt, denkt man da so beiläufig. Warum aber bauen grimmige Fortifikanten dann immer neue Festungen und Bollwerke? Was für ein zähes und knochiges Denken muss dahinterstecken? Leute, die sich erst zufrieden geben, wenn sie sich ringsum eingemauert haben und dann mit dicken Kanonen aus der Deckung böllern. Komisch. Die scheint es immer noch zu geben.

Da bleibt man lieber an der Blau und setzt sich ins „Zunfthaus der Schiffleute“ und schaut auf einen Hafen, den es nicht mehr gibt. Aber das ist wesentlich beruhigender als jede dicke Mauer mit Schießscharte.

Christina Meinhardt Ulm/Neu-Ulm an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 6 Euro.

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