Es ist ein bisschen schmaler ausgefallen als die vorhergehenden Jahrbücher. Auch im Leipziger Geschichtsverein gab es ein paar Veränderungen. Und so gibt es mit dem Jahrbuch zur Stadtgeschichte für das Jahr 2018 diesmal nur drei tragende Beiträge. Einer freilich hat es in sich: Er widmet sich dem unbekanntesten aller Leipziger Bürgermeister der letzten 200 Jahre.

Der Historiker Andreas Schneider widmet sich dem Revolutionsbürgermeister Hermann Adolph Klinger. Er war tatsächlich ein richtiger Revolutionsbürgermeister. Seit 1846 war der Jurist besoldeter Stadtrat in Leipzig. Was eher dem heutigen Dezernenten entspricht. Stadträte mussten noch vom König bestätigt werden, aber seit 1831 durften die Leipziger sich ihren Stadtrat immerhin selbst wählen.

Im Unterschied dazu gab es noch die Stadtverordnetenversammlung, die von den Bürgern direkt gewählt wurde, auch wenn das Wahlrecht an Einkommen und Steuerhöhe gekoppelt war. Das heißt: Es waren eher die begüterten Leipziger, die ihre Stadtverordneten wählen durften. Aber das Leipziger Bürgertum war 1848 großenteils demokratisch und liberal gesinnt. Am 5. April 1848 wurde Klinger – gegen den Willen der meisten Stadträte – von den Stadtverordneten zum Bürgermeister gewählt. Er war mit Robert Blum befreundet und gleichzeitig gewähltes Mitglied des Sächsischen Landtages. Seine Amtseinführung feierten die Leipziger mit einem Fackelzug.

Es ist keine biografische Skizze, die Schneider schreibt. Er versucht nur akribisch die Frage zu klären, warum Klinger schon ein Jahr später – mitten während des Dresdner Aufstandes – am 7. Mai wieder aus dem Amt schied. Oder aus dem Amt gemobbt wurde. Oder gar geputscht?

So eine Frage taucht auf, wenn man das Agieren seines Stadtratskollegen und Vizebürgermeisters Carl Wilhelm Otto Koch bei den Leipziger Mai-Unruhen sieht, die Andreas Schneider hier aufarbeitet. Denn ein Teil der Leipziger war sehr wohl bereit, sich zu bewaffnen und zur Unterstützung der Dresdner aufzubrechen. Ein Dilemma auch für Leipzig. Denn gerade Demokraten und Radikaldemokraten machten Druck, der Meinungskampf wurde mit Plakaten auf den Straßen ausgetragen.

Die zur Waffengewalt bereiten Akteure bauten Barrikaden und machten Druck auf den Bürgermeister, ihnen Waffen auszuhändigen. Und so recht klar wird am Ende nicht, was im Vorfeld von Klingers Rücktritt tatsächlich geschah. Fakt ist, dass er auch in diesen brisanten Tagen einen Großteil seiner Zeit in Dresden verbrachte, also in entscheidenden Momenten nicht in Leipzig war. Und als die Lage eskalierte, scheint er sich nicht nur unter Druck gesetzt gefühlt zu haben. Denn die Ziele der Aufrührer, die gegen die reaktionäre „Wende“ des Königs in Dresden mit Waffengewalt rebellieren wollten, teilte er.

Man ahnt Klingers Zwickmühle eher, als dass sie aus authentischen Quellen greifbar wird. Aber die Mehrheit der eher konservativen Ratsmitglieder stand nicht hinter ihm. Und im entscheidenden Moment war es Koch, der die Kommunalgarde gegen die Aufständischen mobilisierte und die Barrikaden mit Gewalt nehmen ließ. Fünf Getötete waren die Bilanz. Aber Koch erwarb sich damit die Achtung der Ratskollegen und wurde auch deshalb 1849 zum Nachfolger von Klinger gewählt.

Und natürlich lässt Schneider auch nicht die zwiespältige Rolle der Stadt Leipzig außer Acht, in deren Rat vor allem merkantile Interessen den Ton angaben. Gerade die Konservativen im Rat wollten mit allen Mitteln verhindern, dass Leipzig zu einem zweiten Brennpunkt der Maiaufstände wurde und damit seinen Ruf als sicherer Ort und Handelsplatz riskierte. Dafür waren sie auch bereit zu taktieren und mit der königlichen Regierung zu paktieren. Ihre allergrößte Angst war, dass preußische Truppen auch nach Leipzig einrücken könnten.

Klingers Rücktrittserklärung scheint bei ihnen sogar noch Verachtung ausgelöst zu haben. Sie legten dem Mann seinen Zwiespalt als Schwäche aus, gar als Gemeinmachen mit den Aufrührern. Was in diesem blutigen Jahr 1849 auf jeden Fall von zwei Dingen erzählt: Einmal von der sich abzeichnenden Niederlage der 1848er Revolution und ihrer Ideale, verbunden mit dem Wiedererstarken der reaktionären Kräfte, die nach wie vor über das Militär verfügten. Und Preußen war nur zu bereit, jeden Aufstand im Bund mit Militärgewalt zu ersticken, den in Baden genauso wie den in Dresden.

Und der Vorgang erzählt von der Veränderung der Atmosphäre auch in Leipzig. Während Männer wie Klinger noch hofften, den Schwung des Jahres 1848 und die Begeisterung für die erste deutsche Verfassung mitnehmen und auch die Stadtpolitik weiter demokratisieren zu können, waren Leute wie Koch eher Pragmatiker, die auch bereit waren, die Gemeinsamkeiten mit den (Radikal-)Demokraten aufzukündigen, wenn es um die geschäftlichen Interessen der Stadt ging.

Trotzdem bleibt natürlich Schneiders Feststellung, wie dünn die Quellenlage nach wie vor zu Leipzigs Revolutionsbürgermeister ist. Nicht mal ein Bild scheint es von ihm zu geben.

Aber natürlich zeigt gerade sein Beitrag, wie viele Leerstellen die Leipziger Geschichte nach wie vor hat. Die vierbändige große Stadtgeschichte hat durch die zehnjährige Arbeit daran oft erst gezeigt, wo solche Lücken sind und wo ambitionierte Stadtforscher und Historiker tiefer graben können, um auch ein paar Rätsel zu lösen.

Andere bilden in ihren Beiträgen für das Jahrbuch eher die eigenen Forschungsschwerpunkte ab und zeigen, wie man selbst aus ungewöhnlichen Quellen – wie den Registern der apostolischen Pönitentiarie – Informationen über einige Leipziger des 15. und frühen 16. Jahrhunderts schöpfen kann. Das demonstriert in diesem Jahrbuch die Historikerin Lisa Merkel.

Und Karsten Hommel vertieft sich in die ganz spezielle Geschichte der Buchhändler- und Antiquarsfamilie Weigel, deren Unternehmen rund 200 Jahre lang zu den namhaften der Leipziger Buchbranche zählten, aber mit den Bomben des 2. Weltkrieges praktisch aufhörten zu existieren, auch wenn sich zwei kleine Nachgründungen noch ein paar Jahre versuchten zu behaupten, ohne je wieder an den alten Ruf international bekannter Kunst- und Buchhändler anknüpfen zu können. Ein nicht unwichtiges Kapitel zur Geschichte der Buchstadt und – so gar nicht nebenbei – der einst sensationellen Auktionen wertvoller privater Bibliotheken z. B. von namhaften Leipziger Professoren und Sammlern. Dass die Weigels auch für den Leipziger Kunstverein und das spätere Bildermuseum eine nicht unwichtige Rolle spielten, erfährt man ebenfalls.

Einige Rezensionen zu wichtigen Leipziger Neuerscheinungen ergänzen den Band. Und vielleicht werden die nächsten Bände wieder ein bisschen dicker. Denn gerade weil der Leipziger Geschichtsverein mit seinem Jahrbuch über viele Facetten der Stadtgeschichte erzählt, die so noch nie erhellt wurden, ist jeder Band eine Entdeckung für Geschichtsinteressierte. Und macht natürlich immer wieder Appetit auf mehr.

Leipziger Geschichtsverein (Hrsg.) Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2018, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2019, 15 Euro.

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