Florian Werner ist studierter Anglist, Amerikanist und Germanist. Und er wandert gern. Im Wald und auf der Heide. Aber noch viel lieber in Bücherwelten. Was er schon in mehreren Büchern zu unterschiedlichsten Themen des menschlichen Daseins gezeigt hat. Denn menschliche Weisheit steckt in Büchern. Was kein Zufall ist, denn sie steckt in unserer Sprache. Und Sprache ist Denken. Wanderer wissen das.

Und sie schreiben immer wieder drüber. Von Otl Aicher bis Virginia Woolf reicht die Leseliste, die Werner seinem Büchlein gegeben hat. Und wer das Wandern in Büchern kennt und liebt, findet auch einige der berühmtesten Buch-Wanderer in der Liste – Heinrich Heine mit seiner „Harzreise“ genauso wie Theodor Fontane mit seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und den Syrakus-Wanderer Johann Gottfried Seume.

Aber Werner ging es erst einmal nicht darum, seine Belesenheit auszustellen (was er mit zahlreichen Querverweisen dann trotzdem tut), sondern eben mit diesen vielen Texten zum Wandern, zu Wanderslust, Rast, Rucksack und Entschleunigung auszuloten, was Menschen eigentlich mit dem Streifen durch Wald, Heide und Bergland so alles verbinden. Deswegen geht es auch mit den Stichworten „Aufrecht“, „Denken“ und „Einsamkeit“ los.

Wer zu Fuß aufbricht ins Weite, lernt nicht nur etwas kennen von der Welt, der begegnet auch sich. Manche Wege – der Jakobsweg wird natürlich erwähnt – sind ja extra so angelegt, dass man darauf sich selbst näherkommen soll. Sie führen nie geradeaus zum Ziel, sondern passen sich der Landschaft an, führen bergab und bergauf, bringen uns aus der Puste oder lassen unsere Socken qualmen. Oder verschaffen uns Blasen und wunde Füße, wenn das Schuhwerk zu neu ist.

Wir lernen wieder langsamer zu denken, das Gehetztsein in uns abzuschalten und das Atmen der Welt rings um uns wahrzunehmen. All das, was wir beim Rasen in Auto, Flugzeug und ICE nicht mehr sehen, schon gar nicht hören oder riechen. Und wenn wir nicht gerade mit einer lärmenden (Schnell-)Wandergruppe unterwegs sind (die Werner sogar auffällig ausspart, weil das für ihn mit Wandern nichts mehr zu tun hat), werden wir von den Sinneseindrücken oft überwältigt. Der lärmende Zeitgenosse kommt zumindest bei Heine vor, der natürlich wütend erklärt, was diese lauten Menschen anrichten im Wald: Sie sorgen dafür, dass man nichts hört und nichts sieht. Deswegen bringen diese Lärmenden zwar alle möglichen Schnappschüsse mit von unterwegs. Aber sie schreiben keine Bücher.

Schon gar nicht übers Wandern, das für sensible Autor/-innen immer auch eine intensive Begegnung mit ihrer eigenen Existenz ist. Denn beim Wandern ist der Mensch mit seinem aufrechten Gang tatsächlich wieder Mensch. Hoch erhobenen Hauptes sieht er zu Berggipfeln oder zu neuen Horizonten. Manchmal wandert man ja nur, um endlich wieder vom hohen Standpunkt über die Welt zu schauen und dem Gewaltigen zu begegnen, das unser Universum ausmacht.

Deswegen gibt es aus der Romantik so viele Bilder mit Wanderern auf Felskuppen oder am Meer, hinausschauend in eine Weite, die die engen Städte nicht zulassen. Wobei Werner auch das Spazieren und Flanieren in Städten würdigt, das ganz ähnlich wie das Wandern selbst auch eine Raumeroberung des selbstbewusster werdenden Bürgers bzw. der Bürgerin ist. Mehrfach kommt dieser revolutionäre Vergleich mit dem Adligen in seiner Kutsche, seinem Käfig, in dem er sich durch die Welt fahren lässt.

Dagegen ist das Querfeldeinschreiten des Bürgers, der sich auf Wanderschaft begibt, ein selbstbewusster Auf-Stand. Er bestimmt selbst, wohin er auf Schusters Rappen geht. Erstaunlich, dass Werner das so gar nicht auf den Adel von heute bezieht, die automobilen Kutschenbesitzer. Aber er erwähnt zumindest die forschenden Podologen, denen sehr wohl bewusst ist, was für eine eingeengte Sicht Autofahrer auf die Welt und auf die Stadt haben. Sie sind Menschen mit Scheuklappen. Und das betrifft nicht nur den Straßenraum.

Denn Wandern bedeutet auch immer: behauptete Identität. Und die Selbstbestimmung der Wege, der Abwege, Umwege und auch mal Holzwege. Und wer sich so behaupten lernt und seinen Füßen vertrauen, der hat auch weniger Angst vorm Sichverlaufen, vorm Orientierungsloswerden. Es ist nur der moderne, so ganz auf technische Krücken fixierte Mensch, der sich in der wilden Landschaft verloren fühlt, desorientiert.

Keine Frage, dass Werner auch erklärt, was Orientierung mit dem Orient zu tun hat. Erfahrene Wanderer wissen, dass sie nirgendwo verloren sind. Heute, wo selbst die Wälder domestiziert sind, schon gar nicht. Man muss nicht mal dumme Sprüche über Wege und Ziele machen, wie sie bei den heimsässigen Marketingstrategen üblich sind, um sich jedes Mal neu über die Erfahrung zu freuen, dass da, wo ein Weg ist, auch ein Steg zu finden ist. Dass selbst Trampelpfade nicht ins Nichts führen. Bestenfalls zu neuen Entdeckungen oder gar – das kommt dann von Heidegger – zur Quelle.

Kein Wunder also, dass die bekanntesten Wanderbücher immer auch Parabeln auf das Leben sind. Und dass Begriffe vom Wandern fester Bestandteil unseres Denkens über die Lebensbahn sind, wo wir uns in Lebensläufen, auf Himmelspfaden oder auf Abwegen verlieren. Wo wir gestiefelt und gespornt unserer Wege gehen und – wenn wir genug gesehen haben – heimkehren. Heimat als ein aktiv zu erreichender Ort. Was die heutigen Heimat-Narren ja einfach ausblenden: Wer niemals losgegangen ist auf Wanderschaft, der wird niemals wissen, was es heißt: heimzukommen.

Das ist ein Abweg, ich weiß. Das Buch mit seinen liebevoll illustrierten Kapiteln lädt regelrecht dazu ein, sich abseits zu verlieren (auch wenn gerade dieses Goethe-Gedicht nicht erwähnt wird). Wir lernen Karten als Abenteuergeschichte zu lesen und den Rucksack zu würdigen, den wir durchs Leben schleppen, wir lernen, wie eng Flucht und Freiheit beim Davongehen in eins fließen, eben weil wir beides immer in uns tragen. Nur identifiziert sich beides nicht mit dem Ziel.

Wandern bleibt – vom Nützlichkeitsstandpunkt unserer Betriebsprüfer und Unternehmensberater aus betrachtet – so völlig sinn- und zwecklos, weil: unverwertbar. Denn: unterwegs ist der Mensch, was er ist. Manchmal erst recht, endlich entlassen aus den Banden eines Alltags, in dem er nicht sein darf. Jedenfalls nicht so, wie er sich beim Ausschreiten über Lichtungen, Wiesen und Bergpfade fühlt. Sofern er dabei allein ist. Oder nur mit anderen unterwegs, die wissen, dass man auch mal für ein paar Stunden die Klappe halten kann und kein elektronisches Schwatzgerät bedient. Einfach mal ausgeklinkt aus der ganzen falschen Geschäftigkeit, die uns so außer uns bringt und auffrisst mit Haut und Haar.

Natürlich darf man ein paar berühmte Wanderer auch vermissen. Wenn man erst einmal aufmerksam gemacht wurde darauf, wie viele Autoren übers Wandern geschrieben haben, fällt einem Name um Name ein. Oder Buch um Buch. Denn nach den ersten Kapiteln weiß man, wie sehr das aufmerksame Denken mit dem Gehen zusammenhängt. Wie es schon bei den Peripatetikern im alten Athen eine Rolle spielte und bei den bekanntesten Philosophen der jüngeren Zeit sowieso. Das hängt mit dem Rhythmus zusammen.

Unser Denken ist auf unser Unterwegssein abgestimmt, auf das Laufen über Stock und Stein. Da sind unsere Sinne alle wach und nehmen Anregungen auf von allen Seiten. Braucht man da noch Karten oder Wanderführer? Wohl eher nicht. Denn wer nur Ausschau hält nach dem, was versprochen wurde, der sieht nichts auf seinem Weg, der ist nicht da, wo er geht und steht. Und versaut ganzen Wandergruppen die Stimmung, wenn er am Rastplatz schon wieder jammert: „Aber wir müssen doch …“

Aber wie gesagt: Diese Spezies lässt Werner lieber weg. Es ist ausgerechnet das Zwecklose, in dem der verlorene Mensch sich wiederfindet. Und wenn es gar zu eng wird in seinem Leben, dann kann so eine Wanderung auch schon mal Monate und Jahre dauern und in Weltgegenden führen, in denen man gar nicht anders kann, als freundlich zu sein zu den Leuten, denen man begegnet.

Florian Werner Auf Wanderschaft, Duden, Berlin 2019, 15 Euro.

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