Schon 2003 beschäftigte sich Rüdiger Ulrich, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der HTWK Leipzig, mit der Frage, wie unsere Wirtschaft eigentlich aussehen muss, damit wir unseren Planeten nicht unbewohnbar machen. Dass er die bis heute gelehrte „Wirtschaftswissenschaft“ für höchst fragwürdig hält, hat er auch damals schon formuliert. Jetzt hat er ein Buch dazu geschrieben, ein „Plädoyer für eine Ökonomie der Liebe“.

Es ist ein bisschen mehr als ein Plädoyer. Denn Ansätze für eine andere Art des Wirtschaftens – solidarische, genossenschaftliche, regionale, nachhaltige – gibt es alle schon. Doch sie müssen sich mit Nischen zufrieden geben, bleiben Randerscheinung, ohne dass der wilde Aufgalopp einer globalisierten Weltwirtschaft im geringsten gebremst wird. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen, überhaupt nicht passend zu einer Konsum- und Leistungsgesellschaft, in der der Wettbewerb um Marktanteile, Renditen und Billigpreise immer härter und rücksichtsloser geführt wird, Politikerinnen nur zu gern Worte wie „alternativlos“ in den Mund nehmen und unter Ökonomen die Panik umgeht, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu schrumpfen droht.

Da haben die Wirtschaftswissenschaften augenscheinlich eine riesige blinde Stelle. Und Ulrich geht bei der Analyse dieses blinden Flecks weiter als viele andere Kritiker des neoliberalen Kapitalismus-Modells. Ihn beschäftigte die Frage: Wo steckt eigentlich die gewaltige Kraft, die uns in diese unbarmherzige Wachstumsspirale zwingt? Wieso können Ökonomen eigentlich behaupten, dass unser ganzer Erfolg am Wachstum hängt – also an einem permanenten Wachstum der Umsätze, der Warenproduktion und damit einem stetig wachsenden Konsum, der zu immer schnellerem Verschleiß von Produkten führt und zu immer größeren Müllbergen? Und was Unternehmen dazu zwingt, in immer kürzeren Abständen immer mehr neue und eben auch immer sinnlosere Produkte auf den Markt zu schmeißen (Elektroroller z. B.) und die Kunden davon zu überzeugen, dass sie das neueste Produkt unbedingt kaufen müssen?

Was ja dazu führt, dass immer mehr Rohstoffe weltweit in immer schnellerem Tempo ausgebeutet werden, immer mehr Schiffe und Flugzeuge um den Erdball rasen, um Produkte und Teile „just in time“ an alle möglichen Verteilerpunkte zu liefern. Natürlich landet er da beim Schlagwort „Globalisierung“ und durchforstet alle Standardwerke auch der berühmten Wirtschaftsnobelpreisträger danach, wie sie „Globalisierung“ definieren.

Er findet bei keinem einzigen auch nur eine halbwegs brauchbare Erklärung. Das Wort wird wie ein Fetisch gebraucht, selbst von den Promis der Branche immer wieder mit völlig abwegigen Erklärungen begründet. Als würden sie mit aller Macht der wirklichen Erklärung ausweichen – oder sich instinktiv scheuen vor der Wahrheit. Denn Globalisierung ist weder ein Akt der Freiheit, noch des freudvoll geteilten Wohlstands oder gar der Segnungen des Internets.

Augenscheinlich, so Ulrich, haben die meisten Ökonomen eine Mauer im Kopf. Er schimpft zwar später im Buch ganz gewaltig über Karl Marx und dessen gesellschaftliche Visionen, die tatsächlich ziemlich zwangsläufig in Katastrophen münden. Aber bei der Betrachtung der Warenproduktion steht er eigentlich in der Tradition des Wirtschaftsanalysten Marx, auch wenn eher über den Umweg über Thomas Piketty.

Als Betriebswirtschaftler ist es ihm täglich Brot, über die Entstehungskosten von Waren nachzudenken. Und da wird auf einmal die Macht deutlich, die seit gut 40 Jahren die aktuelle Welle der „Globalisierung“ antreibt: „Die Reichweite des internationalen Handels erhöht sich also primär, wenn man einmal von der Lohngefälle-Globalisierung absieht, durch die produktionsbedingte Reduzierung der gesamten Wertschöpfungskosten – und nicht nur einiger untergeordneter Teile.“

Was übrigens auch der Grund dafür ist, warum die Lohnkosten in Ostdeutschland seit zwei Jahrzehnten konsequent um 20 Prozent unter denen in Westdeutschland liegen und warum hier auch keine neuen Produktionsstrecken mehr aufgemacht werden.

Ökonomie ist gnadenlos. Und blind, wenn man nicht mal weiß, warum das so ist und wer an all dem eigentlich schuld ist. Denn Ulrich stellt sich auch die Frage, warum dieser Kampf um immer niedrigere Wertschöpfungskosten so gnadenlos ist. Er schildert es am Beispiel der italienischen Pizza und dem Nahrungsmittel-Weltkonzern Dr. Oetker, der den italienischen Tiefkühlpizzamarkt dominiert, weil er die Pizzen industriell herstellt und durch die riesigen Stückzahlen auf Cent-Beträge in der Herstellung kommt. Und wir alle haben gelernt, dass wir billig kaufen sollen. Die Werbung predigt uns das seit Jahrzehnten. Der Gipfelpunkt war der unverschämte Slogan „Geiz ist geil“.

Nein: Geiz ist eine Krankheit.

Aber warum dominiert die uniforme industrielle Massenware? Warum kaufen wir diese Produkte und schmeißen sie oft schon kurz nach dem Kauf weg?

Das ist im Grunde der zweite Abschnitt, in dem Ulrich zeigt, dass noch ein zweites Heiligtum der üblichen Ökonomie-Erzählung ein Märchen ist: der Preis. Denn in der klassischen Ökonomie soll der Preis eigentlich die Entstehungskosten abbilden und gleichzeitig die Knappheit einer Ware. Aber das tun Preise in einer Überflussgesellschaft nicht mehr. Und es gibt auch kein Unternehmen, das seine Kunden dazu aufruft, das gekaufte Produkt wertzuschätzen und pfleglich zu behandeln, damit es lange hält. Im Gegenteil: Ein riesiger Anteil am BIP spiegelt einen Konsumexzess wider, bei dem die schnellstmögliche Zerstörung und Ersetzung des gekauften Produkts immer neue Produktivitätszuwächse ergibt.

Wir leben tatsächlich in einer irre gewordenen Wirtschaftswelt.

Aber warum ist das so? Warum verwenden Manager immer mehr Hinrschmalz darauf, wie sie die Erstellungskosten immer weiter senken können und gleichzeitig die Verfallszeit der Produkte immer weiter senken? Und damit die Zerstörung unserer Welt immer weitertreiben und Politiker panisch machen, weil die nur so eine Art des Produzierens kennen und nicht wissen, wie sie den Teufelstanz beenden sollen?

Ulrich nennt es einen „planetarisch voll entfesselten Egoismus“.

Wobei dieser Egoismus für ihn zwei Seiten hat. Denn der Egoismus der Konsumenten, die dazu erzogen werden, ihr Leben immer mehr über all die Produkte zu definieren, die sie kaufen, ist ein anderer Egoismus als der, der sie zum Mithetzen zwingt. Der zweite Egoismus wird immer wieder sichtbar, wenn neue Statistiken zum weltweiten Auseinanderklaffen von Armut und Reichtum veröffentlicht werden. Denn niemand streitet wirklich ab, dass die Superreichen (nicht nur in Deutschland) immer reicher werden, dass immer mehr Millionäre und Milliardäre immer riesigere Vermögen horten, die sie ohne eigene Arbeit stetig vermehren. Was eigentlich bei den Nullzinsen am Markt heute fast unmöglich sein sollte.

Aber diese Leute vermehren ihren Reichtum ja nicht durch Spareinlagen bei der Sparkasse. Und auch nicht durch gut erwirtschaftete Unternehmensgewinne. Sondern durch die Zinsen auf ihre Unternehmensanteile. Ein Thema, bei dem Ulrich nur staunt, dass es bei den maßgeblichen Wirtschaftsauguren so gar nicht vorkommt. Als würden die alle gar nicht wissen wollen, woher die riesigen Reichtumszuwächse eigentlich kommen. Und wie diese Zinsen auf Unternehmensanteile die Managements gerade der großen, international agierenden Konzerne dazu zwingt, selbst bei stagnierenden Umsätzen immer neue Wege zu finden, um diese Kapitalzinsen an die „stillen“ Teilhaber auszuschütten. Fast hätte ich geschrieben: zu erwirtschaften.

Aber diese Milliardensummen werden schon lange nicht mehr durch Produktivitätszuwächse erwirtschaftet. Deshalb gibt es weltweit seit fast 20 Jahren eine permanente Dauerkrise. Die Konzerne können diese Zinsen aufs Kapital, die an die Kapitaleigentümer überwiesen werden, nur noch dadurch erwirtschaften, dass sie die Kosten des Unternehmens selbst immer wieder in großem Maßstab senken. „Verschlanken“, heißt das so gern. Denn das sind die berühmten Massenentlassungen, die die Manager immer regelmäßiger vor den Aktionärsversammlungen verkünden, nach denen dann gleich mal 3.000, 7.000 oder 10.000 Mitarbeiter ihren Job verlieren, aber die Börsenberichterstatter jubeln.

Was einem sowieso immer seltsamer vorkommt. Da betteln die gleichen Konzerne beim Staat um Steuernachlässe und Subventionen und begründen das mit dem „Erhalt von Arbeitsplätzen“ und im gleichen Atemzug schmeißen sie die Leute zu Tausenden raus. Aber auch das sind zwei Seiten einer Medaille. Denn auch das Senken der Steuerbelastung erhöht den Geldertrag im Unternehmen. So werden die Zinsen aufs Kapital gesichert, während der Staat in die Röhre guckt.

Natürlich merkt man mit Ulrich schnell, dass diese permanente Erhöhung der Kapitalerträge an ihre Grenzen kommt. Wenn die Märkte gesättigt sind und die Umsätze nicht mehr steigen können und auch längst jeder Mitarbeiter gefeuert wurde, den man zum Erhalt der Produktion nicht ganz zwingend braucht, ist der Puffer aufgezehrt, aus dem noch irgendwie die Kapitalzinsen abgezweigt werden können.

Für Ulrich hat das auch mehrere moralische Schattenseiten, denn wirklich begründbar, warum Kapitaleigentümer bis in alle Ewigkeit immer mehr Zinsertrag aus ihren vor vielen Jahrzehnten eingelegten Kapitalien ziehen können, ist es nicht. Der Mechanismus ist ja geradezu zerstörerisch, weil er einerseits die immer rücksichtslosere Plünderung der Welt nach sich zieht, andererseits aber auch gigantische Kapitalberge anhäuft, die längst ein völlig anderes Problem haben: Sie finden keine neuen Anlagemöglichkeiten mehr.

Man kann Milliarden Euro als ganz normaler Mensch einfach nicht konsumieren. Und Konsumieren heißt eben nicht, dass das Geld wieder in neue Anlagen, Anleihen oder Aktien gesteckt wird – denn das sind Investitionen. Investitionen, die wieder verzinst sind und den Eigentümern dieser Anleihen noch mehr Geld bringen. Womit Ulrich dann ja endgültig bei der heutigen Staatsschuldenkrise angekommen ist. Denn wenn sich Staaten am Geldmarkt Kredite verschaffen, ist das genau solches Geld von Leuten, die verzweifelt nach neuen Anlagemöglichkeiten suchen – und dann auch griechische oder italienische Staatsanleihen kaufen, selbst wenn sie wissen, dass diese Staaten völlig überschuldet sind und den Zinsdienst kaum noch bedienen können.

Wir sind mittendrin in der Euro-Krise oder wie immer man das nennen will – und in dem perfiden Banken„rettungs“plan auch der deutschen Regierung, der die Bürger in Griechenland völlig wurscht waren. Für die hat der deutsche Finanzminister nie gekämpft, auch wenn das anders klang in den Verlautbarungen der Bundesregierung. Gekämpft hat er für jene superreichen Anleihebesitzer, die auch aus griechischen Papieren einen Geldgewinn verbuchen wollen.

Womit wir mittendrin sind in der eigentlichen Frage unsere Zeit: Wie kann man diese riesigen Geldberge, hinter denen keine Arbeit und keinerlei echter Produktionswert mehr steht, die aber mit ihrer Jagd nach immer neuen (schnellen) Gewinnmöglichkeiten die ganze Welt destabilisieren, eigentlich wieder abtragen?

Denn Ulrichs Beschreibung dessen, was er da vorgefunden hat, ist wohl sehr treffend: Es sind die Metastasen der Globalisierung. Und dieses Krebsgeschwür ist die Ursache für alle unsere heutigen ökonomischen und ökologischen Probleme.

Wie kommen wir da raus?

Das versucht Rüdiger Ulrich nach seiner Analyse zu klären.

Mehr dazu im nächsten Teil der Buchbesprechung.

Rüdiger Ulrich Nähe und Gemeinsinn, Oekom Verlag, München 2019, 20 Euro.

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