Geschichte ist nicht das, was man in Geschichtsbüchern liest. Das ist bestenfalls so eine Art komprimierter Extrakt, bestenfalls das, was Historiker „die Meistererzählung“ nennen, wohl wissend, dass sie im Grunde nur ein paar Schlagzeilen enthält, aber das ganze blutige Leben in seinen vielen tausend Einzelgeschichten gar nicht drin vorkommt. Und so sucht man in der deutschen Wikipedia erst einmal vergeblich nach einem Dorf mit dem Namen Wierzeje.

In der polnischen findet man es dann: Osiedle Wierzeje (Piotrków Trybunalski). Es ist also zum Vorort der nahe gelegenen Kreisstadt Piotrków Trybunalski geworden, die man dann in der deutschsprachigen Wikipedia auch findet, gelegen in der Woiwodschaft Łódź. Łódź erscheint in Maria Bosris Buch in der eingedeutschten Schreibweise Lodsch, Piotrków Trybunalski als Petrikau. Denn es ist eine deutsche Geschichte, eine, die man auf den üblichen Internetseiten nicht findet. Nicht bei August dem Starken und auch nicht bei „Kartoffel“.

Denn mit Kartoffeln fing alles an im Jahr 1697, als August der Starke zum polnischen König gewählt wurde, damit aber auch in ein Land kam, das die Kartoffel noch nicht kannte. Sie hatte ja auch erst kurz zuvor ihren Weg nach Sachsen gefunden, war aber noch lange nicht Volksspeise, sondern eher eine Kostbarkeit für die herrschaftliche Tafel. Oder – in Augusts Fall – die rettende Speise, wenn der Kurfürst und König sich mal wieder gründlich den Magen verdorben hatte oder zu viel gefeiert hatte.

Vielleicht steht die Geschichte ja andernorts schon. Bei Maria Bosri ist sie der Einstieg in eine Familiengeschichte, denn sie erklärt, warum – organisiert vom mächtigen Minister Jacob Heinrich von Flemming mit seinen vielfältigen Kontakten nach Polen – einige sächsische Bauern dazu gebracht wurden, in ein kleines, abgelegenes Dorf nahe Petrikau umzuziehen und dort die kostbare Kartoffel anzubauen, damit der Königshof in Polen damit beliefert werden konnte.

Im Vorwort erzählt Bosri sehr knapp, wie sie eigentlich zu dieser Geschichte kam, denn es ist ihre Familiengeschichte, die vielleicht auch schon vor Jahrzehnten erzählt worden wäre, wären die aus Wierzeje geflohenen Frauen nicht in Sachsen gelandet, also in jener DDR, die sich sich mit der Geschichte der Heimatvertriebenen, im Amtsdeutsch: Umsiedler, schwertat und eine offizielle Beschäftigung mit diesen Geschichten praktisch unmöglich machte. Sodass die Erzählungen über das Leben dieser Familien, die einst im heutigen Polen lebten, nur innerhalb dieser Familien weitergegeben wurden. In Maria Bosris Fall durch die Erinnerungen ihrer Tante Helene und dann ab 1996 durch ihre Mutter Elisabeth, die erst auf dem Totenbett begann, die Geschichte der Familie zu erzählen.

Aber kann man aus solchen Erinnerungen eine 300-jährige Familiengeschichte rekonstruieren? Maria Bosri versucht es. Und zumindest scheinen ihr die wichtigsten genealogischen Daten zur Verfügung gestanden zu haben, sodass auch die frühen Jahre des Hofgründers Martin Schlüter und seiner Frau Uta Gestalt annehmen können, Jahre, die auch schon von den unvermeidbaren Konflikten geprägt waren, die natürlich entstehen, wenn Neuankömmlinge aus einem anderen Land sich ansiedeln und nicht nur andere bäuerliche Methoden und Sitten mitbringen, sondern in diesem Fall auch einen anderen Glauben, ein strenges Luthertum inmitten einer katholisch geprägten Umgebung. Es verwundert nicht, dass sich in dieser Einwanderungsgeschichte auch die Konflikte unserer heutigen Zeit spiegeln.

Und augenscheinlich genügten auch 200 Jahre nicht, diese Konflikte aufzulösen. Was auch an der polnischen Geschichte selbst liegt. Denn immer wieder wurde Polen zum Zankapfel der Nachbarmächte und damit auch zum Durchmarschgebiet plündernder und mordender Soldaten, was schon kurz nach Augusts Krönung im sächsisch-schwedischen Krieg auch die Region um Petrikau erwischte. Daher der Buchtitel „Taubenblut“. Denn um die Bauernhöfe den nahebei vorbeiziehenden Truppen nicht zu verraten, wurden als Erstes die Tauben geschlachtet, die durch ihren Anflug den Stand des Taubenschlages hätten verraten können.

Jahrhundertelang war Wierzeje dadurch leidlich geschützt, dass es hinter einem großen See und ausgedehnten Wäldern und Moorgebieten lag. Und zum Durchmarschgebiet brandschatzender Truppen wurde Polen immer wieder, zuletzt, als es von den Nachbarmächten Russland, Österreich und Preußen geteilt wurde und damit über mehr als ein Jahrhundert seine Eigenständigkeit verlor. Was dann im kleinen Wierceje immer wieder auch ein kompliziertes Miteinander der Deutschen (die auf ihrer kulturellen Eigenständigkeit beharrten) und der Polen (die meist die Knechte und Mägde auf den Gütern der Deutschen stellten) ergab.

Mal war es die Sturheit der alten deutschen Bauern, mal die Stimmungsmache katholischer Priester, die die Konflikte stärkten. Aber immer wieder fanden sich beide Nationalitäten auch in der Position der Fremdbeherrschten wieder – lange Zeit durch die russische Besetzung und damit einem komplett russisch besetzten Beamtenapparat, später durch die Österreicher. Nur dass Bosri all diese Dinge eben nicht aus der Königsebene heraus erzählt, wie das in Geschichtsbüchern so üblich ist, sondern aus der Perspektive des Schlüterschen Bauernhofes und seiner Bewohner, die schnell lernen mussten, mit den Grausamkeiten eines Krieges und den wechselnden Erwartungen neuer Herrschaften umzugehen, die Ernten zu retten und das Unbill, das plündernde Soldaten über die Dörfer brachten, möglichst zu lindern oder zu vermeiden.

Und das gelingt Bosri sehr farben- und detailreich. Augenscheinlich hat sich vieles von dem, was die ersten vier Generationen auf dem Schlüterhof erlebten, tatsächlich bewahrt, auch wenn Bosri betont, dass sie die bruchstückhaften Erzählungen natürlich sortieren musste und Lücken mit frei erfundenen Dialogen, Handlungen und auch Personen ergänzen musste. Die Familiengeschichte wird damit zu einem sehr lebendigen Familienroman, in dem vor allem einfallsreiche Frauen und Männer zu starken Akteuren werden in Zeitläufen, die immer wieder auch das Grauen in die Region tragen und die Frage aufwerfen, ob diese kleine deutsche Insel in Mittelpolen eigentlich eine Zukunft hat.

Denn nach dem Augusteischen Zeitalter gab es ja auch keinen sächsischen Königshof mehr, der die Bauern in Wierzeje protegierte. Sie mussten allein auskommen und sich in einer Umgebung behaupten, in der es stets die neuen und alten Eliten waren, die aus konfessionellen und ethnischen Konflikten Zündstoff für ihre politischen Kampagnen machten. Das ist also gar nicht neu, was wir heute wieder erleben. Wer Menschen gegeneinander ausspielen und aufhetzen kann, verschafft sich politische Macht. Und spielt nicht nur mit dem Feuer, sonder schürt es ganz gezielt.

Und es sieht nicht so aus, als wollten viele Menschen daraus wirklich einmal eine Lehre ziehen. Sie lassen sich wieder gebrauchen und missbrauchen. Auch deshalb ist „Taubenblut“ ganz beiläufig sehr aktuell. Denn diese Konflikte begleiteten die Wierzejer auch bis ins 19. Jahrhundert, wo der Schlüterhof dann über mehrere Jahre verpachtet war, bis ihn mit Philip Rohr wieder ein Familienerbe übernahm.

Und damit sind wir dann in der direkten Familiengeschichte, denn Helene und Elisabeth sind Töchter von Philip und Marie Rohr. Und man merkt es dem Buch auch an, dass sie sich mit Philips Übernahme des Hofes deutlich verdichtet und immer mehr parallele Handlungsstränge gewinnt. Denn jedes der acht Kinder von Philip und Marie hat eine eigene Lebensgeschichte. Und natürlich wachsen sie in einer Zeit auf, die uns schon deutlich näher ist und deren dramatische Ereignisse bis heute ihre Folgen haben.

Angefangen mit dem ersten Weltkrieg, der – wieder einmal – Polen zum Schlachtfeld und zum Besatzungsgebiet machte und diesmal Wierzeje nicht mehr wirklich verschonte. Und dabei weiß man als Leser, dass die dramatischen Ereignisse in diesem Dorf tatsächlich nur das Vorspiel dessen waren, was dann ab 1939 passieren wird. Da hilft auch der Blick auf den kleinen Wikipedia-Artikel zu Piotrków Trybunalski: „Petrikau hat 1938, ein Jahr vor Kriegsbeginn, 51.000 Einwohner, davon etwa 25.000 Juden und 1.500 Deutsche.“

Helene ist im Haushalt eines jüdischen Fabrikanten angestellt. Die meisten Petrikauer Fabrikanten sind Juden. Doch auch sie zögern, das Land zu verlassen, obwohl sowohl in Polen als auch in Deutschland sich die Angriffe von Nationalisten und Antisemiten mehren. Die Deutschen würden dann wenig später fast alle Petrikauer Juden ermorden. Und zumindest in der Kurzfassung erfährt man noch, wie es mit einigen der Heldinnen und Helden weitergeht. Denn kurz vor dem Überfall durch die Wehrmacht lässt Maria Bosri ihre Geschichte ausklingen, verspricht eine Fortsetzung der Familiengeschichte in einem nächsten Band. Die letzten Szenen gehören Elisabeth, die ihrem jüdischen Arbeitgeber noch die Flucht ermöglicht und selbst eigentlich auch nur noch einen Gedanken hat: So schnell wie möglich weg.

Da hat man dann schon einige Kapitel der Steigerung in der Dramatik erlebt, denn ganz augenscheinlich hat Polen, das durch den Versailler Vertrag endlich wieder seine nationale Eigenständigkeit zurückerhielt, ab 1918 eine genauso gefährlich Aufladung von Nationalismus und Antisemitismus erlebt wie Deutschland. Mit Versailles ist es nicht nur in Deutschland nicht gelungen, den finsteren Schatten des ersten Weltkriegs zu verlassen. Tatsächlich wurden neue nationale und politische Konflikte angelegt, die sich dann binnen weniger Jahre zum nächsten Krieg zuspitzten.

Und das Thema der nationalen Homogenität, das in Versailles ein ganz zentrales war, wurde jetzt zu regelrechten Vertreibungen. Womit ein ganzes großes historisches Kapitel endet, in dem Menschen unterschiedlichster Konfessionen und Nationalitäten nebeneinander und miteinander lebten – konfliktreich, wie wir in diesem Buch erfahren. Aber auch friedlich, wenn gerade diese Unterschiede nicht wieder von selbstsüchtigen Eliten missbraucht wurden, um Hass und Neid zu schüren.

Denn die Gewalt entsteht nicht in den Dörfern, wo Menschen miteinander auskommen müssen und aufeinander angewiesen sind. Die verschärften Konflikte entstehen in den Köpfen der Militärs, Politiker und Schreibtischtäter, die eine Lust daran haben, Menschen aufeinanderzuhetzen und Minderheiten zum Buhmann zu machen. Was aus der dörflichen Perspektive, aus der Maria Bosri erzählt, erst recht deutlich wird. Und beklemmend zugleich, weil man auch wieder einmal erfährt, wie schwer es ist, sich als Betroffener vor Ort gegen diese Scharfmacher und die Folgen ihres Zündelns zu wehren.

So gesehen ist dieser Familienroman auch ein sehr europäischer Roman, der davon erzählt, wie (zumeist fleißige und verantwortungsbewusste) Menschen ihre Existenz meistern und die kleinen Konflikte des Alltags lösen. Und wie sehr sie leiden unter dem, was die Großen dann Weltgeschichte nennen, und wie sie zum Spielball von deren Kriegen und Okkupationen werden. Am Ende werden nicht nur die Tauben geschlachtet, sondern auch Pferde, Kühe, Schweine, zieht der Hunger auch auf dem Schlüterhof ein und die große, blutige Geschichte nimmt ganz konkrete Form an, gerinnt zu Kapiteln, in denen immer wieder die rettende Kartoffel hilft, die allerschlimmsten Zeiten zu überleben.

Maria Bosri Taubenblut. Die Siedler, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2019, 24,80 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache (Stand 1. Oktober 2019): Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen und ein Freikäufer-Abonnement abschließen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 450 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar