Was Maria Bosri in ihrer sächsisch-polnischen Familiengeschichte „Taubenblut“ erzählt, ist in der deutschen Erinnerungsliteratur auf mehrfache Weise einzigartig. Nicht nur, weil sie im ersten, 2019 erschienenen Band „Die Siedler“ erzählte, wie ihre Familie unter August dem Starken von Sachsen nach Polen auswanderte und dort für zwei Jahrhunderte heimisch wurde. Wer das Buch gelesen hat, weiß, dass es um Kartoffeln für den polnischen König ging. Im zweiten Band steht nun ihre 1908 geborene Mutter Elisabeth im Mittelpunkt der Erzählung. Und alles beginnt im Jahr 1939 mit einer Flucht.
Einer Flucht, die beinah tödlich ausgeht für Elisabeth. Die aber in ihrer Dramatik schon vorwegnimmt, was die folgenden Jahre mit Elisabeth, ihrer Familie, den Polen, den Deutschen, den Juden passieren wird. Und was auch Elisabeths Schwestern und Brüder in den Strudel einer Geschichte reißt, die wir aus den Geschichtsbüchern alle zu kennen glauben. Geprägt durch hunderte auch in Buchform erschienene Vertreibungserzählungen.
Doch wie sich der in einem „Blitzkrieg“ über Polen herfallende Faschismus für die Betroffenen anfühlte, das wird selten so dicht und anschaulich erzählt. Auch deshalb, weil die Vertreibungsliteratur in Westdeutschland jahrzehntelang einen völlig anderen Gestus hatte. Und im Osten wurde darüber – staatlich gewollt – meistens geschwiegen. Auch in den Familien, die als Vertriebene in der DDR gestrandet waren.
Der falsche Glanz des Faschismus
Doch wie erzählt man so eine Geschichte? 1996 war es, da begann Maria Bosri die Geschichte aufzuschreiben, so wie sie ihre Mutter erzählt hatte. Es gab Lücken. Viele Lücken konnten durch Briefe gefüllt werden, andere durch die Erinnerungen von Zeitgenossen, die Maria Bosri befragen konnte. Wobei die Erinnerungen Elisabeths, die im Buch für das Schicksal ihrer Mutter steht, stets der rote Faden bleiben, an dem entlang Maria Bosri das Schicksal der Familie aus dem polnischen Wierzeje erzählt, im Süden Polens in der Nähe der Stadt Petrikau (heute: Piotrków Trybunalski) gelegen.
Schon vor 1939 ist das Leben der sächsischen Siedler nicht leicht. Doch mit der deutschen Wehrmacht kommt das Entsetzen nach Polen, ein Entsetzen, das direkt verbunden ist mit der Entwertung von Menschen. Was Elisabeth schon in der Haft erlebt, wo sie nach dem Übertritt über die polnisch-deutsche Grenze erlebt, was es heißt, wenn Menschen sortiert werden wie Vieh – und als „Volksdeutsche“ ist sie zwar nicht so entwertet wie ihre polnischen Begleiterinnen, erfährt aber schnell, mit welcher Verachtung die „Reichsdeutschen“ auf sie herabschauen und dass ihr der leicht bessere Status überhaupt keine Sicherheit bietet.
Den Faschismus befördert alles, was an schlechten Eigenschaften in Menschen angelegt ist. Denn er ist eine reine Ideologie der Macht. Wer rücksichtslos ist, lügt, betrügt, verleumdet und erniedrigt, steigt in so einem System auf. Neid, Gier und falsche Verdächtigung verändern das Klima der Gesellschaft radikal. Sie spülen Karrieristen, Sadisten und Opportunisten in Machtpositionen.
Und anonyme Anzeigen beherrschen den Alltag, sodass sich Elisabeth, obwohl sie sich in den Aufgaben, die ihr zugeteilt werden, immer wieder bewährt, ihres Lebens nie sicher sein kann. Denn ein funktionierendes Rechtssystem gibt es im Faschismus nicht. Willkür regiert, während sich schon 1939 abzeichnet, dass es mit der ganz normalen Versorgung im Alltag eng wird. Was Diebstahl und Betrug alle Türen öffnet, während Menschen wie Elisabeth merken, dass sie selbst zum Freiwild werden, wenn die Mächtigen die Sache vertuschen wollen.
Die Lager im Süden von Leipzig
Immer wieder ist sie froh, dass sie dem nahenden Unheil durch Versetzung entkommen kann. So erlebt sie den Krieg gegen die Sowjetunion praktisch als Gehilfin in einer Krankenstation mit – und damit auch die Verbrechen an der Bevölkerung, die sich vor ihren eigenen Augen abspielen. Eine schwere Erkrankung bewahrt sie davor, noch tiefer in dieses mörderische Gemetzel verwickelt zu werden.
Sie bekommt die Chance, „ins Reich“ zu gehen und dort als Köchin in verschiedenen Lagern zu arbeiten, alles Lager im Süden Leipzigs, wo Elisabeth bei ihrer Schwester Gerda in Neukieritzsch untergekommen ist und ganz am Ende doch auch dort lieber weggeht, denn bei der hitlerbegeisterten Schwester fühlt sie sich nicht willkommen, fühlt sich nur ausgenutzt.
Auch über das, was sie in Wierzeje und in der zerstörten Ukraine erlebt hat, kann sie mit der Schwester nicht reden. Über die Zustände in den Gefangenenlagern, in denen sie arbeitet, ebenso wenig. Gerade die Kapitel über ihr Leben im Leipziger Süden machen eine Welt sichtbar, die heute ebenso fast vergessen ist – die Welt der Straf- und Arbeitslager rund um die Industriebetriebe und Brikettfabriken, die der deutschen Rüstungswirtschaft zuarbeiteten
. Und nicht nur die Lebensbedingungen der kriegsgefangenen Russen sind erbärmlich, den jungen Holländern, die praktisch als Geiseln verhaftet wurden, erging es nicht anders. War Hunger schon für Elisabeth und ihre Schwester Helene, die nach grausamen Erlebnissen in Wierzeje ebenfalls die Flucht nach Neukieritzsch gelang, schon Alltag und die Sorge um die Nahrung allgegenwärtig, so war der Hunger für die Gefangenen in den Lagern ganz bewusst organisiert.
Und für Elisabeth kam die ganze Zeit auch das Misstrauen der eingesessenen Bevölkerung hinzu. Denn Faschismus prägt das Denken seiner Untertanen. Über Generationen, wie wir wissen. Denn in dem, was wir heute so leichthin Populismus nennen, steckt eine gehörige Portion faschistischen Denkens – blanker Rassismus, Elitisms und das Definieren von Außenseitergruppen, denen man das Recht abspricht, ein gleichwertiger Bürger zu sein.
Das stammt alles aus dieser nie wirklich bewältigten Vergangenheit. Aus dem Schweigen, das sich vor allem die Täter und Mitläufer jahrzehntelang verordnet haben. Und das auch Menschen wie Maria Bosris Mutter zum Schweigen verdammte.
Neuanfang in Breitingen
Auch weil das alles nicht aufhörte, als 1945 erst die Amerikaner kamen und dann die Sowjetarmee einzog. Aber da hatte sich Elisabeth längst entschlossen, die unaushaltbare Atmosphäre in Gerdas Haus zu verlassen und einer Anzeige zu folgen, in der ein Witwer und Vater von fünf Kindern eine Haushälterin suchte. Dessen Geschichte erzählt Maria Bosri ebenfalls sehr ausführlich, sodass man schon nach Elisabeths Fahrradtour von Neukieritzsch nach Breitingen weiß, dass sie ganz und gar nicht in ein neues glückliches Zuhause kommt. Dass sie vielleicht sogar scheitern kann, auch wenn sie am Ende die einzige Bewerberin ist, die die strenge Prüfung besteht.
Aber in Wierzeje hat sie gelernt, wie man ein Haus bewirtschaftet, wie man aus einer kleinen Landwirtschaft all das herausholen kann, was im Haus den Hunger stillt, und wie man einer Familie jenen Halt gibt, den sie braucht, um nicht zu zerbrechen. Auch wenn sie hier mit Richards Sohn Horst wieder einem Menschen begegnet, der das faschistische Denken verinnerlicht hat und sich – nachdem der Vater doch noch in den Krieg befohlen wurde – als Herr im Haus aufführt, die Geschwister herumkommandiert, selbst aber keinen Handschlag tut.
O, falls das jetzt überlesen wurde: Patriarchalische Familienvorstellungen und Faschismus gehören zusammen.
Nur lässt sich das Elisabeth nicht gefallen. Obwohl es zu dieser Zeit scheinbar noch das normale Verständnis von Familie ist, das auch in den Dörfern südlich von Leipzig gelebt wurde. Bis hin zu Richards gepflegter Saufbrüderschaft in der Dorfkneipe, wo er das Geld vertrinkt, das er in der Fabrik erarbeitet hat. Doch Elisabeth spannt ihn ein in die Bewirtschaftung des Feldes, das beiden zusteht, lässt es nicht zu, dass er Haus und Familie wieder allein bei ihr ablädt.
Und auf einmal hat man eine jener starken Frauen vor sich, die nach dem von den machtbesoffenen Männern entfesselten Krieg dafür sorgten, dass sich das Leben wieder normalisierte und Zukunft überhaupt wieder denkbar war. Egal, unter welchen kargen und hart erkämpften Bedingungen.
Neuanfang
Auch wenn Elisabeth schon wieder überlegt, aufzubrechen, weil Richard das Saufen nicht lassen kann. Aber man hat hier geradezu in nuce die Situation vor sich, aus der das neue Deutschland wachsen würde. Mit all den Mitläufern und Jasagern, die auf einmal nie dabei gewesen sein wollten, mit Neid und Missgunst, die das Klima gerade in den kleinen Orten noch lange prägten.
Es ist keine Idylle, in die Elisabeth ihr Leben gerettet hat. Bestenfalls ein Ort, an dem eine tatkräftige Frau, die sich nicht unterbuttern lassen möchte, zeigen kann, wie man wieder Boden unter den Füßen bekommt und den Kindern ein Zuhause gibt, das diesen Namen verdient.
So wie es einmal der Bauernhof in Wierzeje war, der nun aber endgültig Geschichte ist. Eigentlich schon vorher Geschichte war, als die deutschen „Sieger“ Polen okkupierten und ihre Vernichtungsmaschinerie in Gang setzten, unter der zuallerst die Juden leiden mussten, die einst auch die Welt in Petrikau prägten.
Und obwohl es „nur“ eine Familiengeschichte ist, wird die schlimme Wunde sichtbar, die der Faschismus in der deutsch-polnischen Geschichte hinterließ. Und es liest sich wie eine innige Mahnung, nicht zu übersehen, wie das verlogene Denken des Faschismus imme noch da ist. Wie er neue Formen der Abwertung und Ausgrenzung bedient und den Menschen, die sich nicht erinnern wollen, einredet, seine boshaften Rezepte seien ein Angebot für die Gegenwart.
Genau das gelingt Maria Bosri besonders deutlich zu machen: Wie sich Faschismus anfühlt, wenn man ihm hilflos ausgeliefert ist. Und nur hoffen kann, immer wieder auf Menschen zu treffen, die ihren menschlichen Anstand nicht preisgegeben haben.
Maria Bosri „Taubenblut. Die Rückkehr“ Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2024, 24,80 Euro.
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