Eigentlich wäre ja derzeit die große Medienberichterstattung darüber fällig, wie der britische Premier Boris Johnson es nun schaffen will, Großbritannien aus der EU zu führen. Denn bis auf die feste Absicht auszutreten, liegt ja bislang immer noch kein einziger Umsetzungsvorschlag vor. Aber nun hat der Bursche selbst eine Corona-Infektion. Und ein kleines Büchlein macht jetzt – so völlig gegen den Trend – neugierig auf die so gern belächelte englische Küche.

„Es lebe das Vorurteil“, betitelt Carola Ruff deshalb auch gleich mal das Einführungskapitel, in dem sie auf die Vorurteile eingeht, die gerade in Deutschland gegenüber der englischen Küche herrschen, obwohl augenscheinlich wenig bis nichts darüber bekannt ist. Oft verwechseln das flotte Kommentatoren mit dem, was man als Fast Food kennt, und auch Touristen in London landen meist nur bei den großen Fast-Food-Anbietern, ohne auch nur zu bemerken, dass das mit der originalen englischen Küche nichts zu tun hat.

Da stolpert man wohl eher im englischen Supermarkt über lauter Produkte, die man in deutschen Supermärkten schmerzlich vermisst, weil sie einfach nicht ins Beschaffungsprogramm der Einzelhandelsriesen passen. Carola Ruff nennt die große Auswahl an Cider und Apfelchips.

Natürlich gibt es auch ein paar einfühlsame Kommentare zum Brexit und zur britischen Demokratie und ihren oft skurril anmutenden Traditionen. Aber in einem kleinen Kapitel – „Brexit auf dem Teller“ – geht Carola Ruff auch auf das Grundthema in der ganzen Austrittsdebatte ein: die Suche nach einer eigenen Identität.

Es geht zwar scheinbar immer um Geld. Aber wenn man genauer hinschaut, geht es auch den Briten um das Gefühl, über elementare Dinge im eigenen Alltag nicht mehr selbstständig entscheiden zu können, von Vereinheitlichungsregeln aus Brüssel regelrecht gezwungen zu werden, auf geliebte Traditionen und Essgewohnheiten verzichten zu müssen.

Erstaunlich: Aber über das Thema wird ja wirklich nicht diskutiert. Das überlässt man den Nationalisten und Rechtspopulisten. Möglicherweise aus gutem Grund: Da geht es ans Grundverständnis der EU, die ihr Gemeinschaftsverständnis eben nicht auf der Akzeptanz der Verschiedenheiten aufbaut, sondern auf dem „gemeinsamen Markt“. Womit auf einmal Konzerninteressen dominieren, die sich dann auch in europäischen Verordnungen niederschlagen. Ökonomisches Denken aber ist kalt. Es ist knallhartes Gewinn- und Umsatzdenken.

Es hat gar keinen Platz für kulturelle Befindlichkeiten und die Wünsche der Menschen, in ihrem Lebens- und Wirkungsbereich mitentscheiden zu dürfen. Das Wörtchen „subsidiär“, mit dem das mal bemäntelt wurde, ist aus dem öffentlichen Sprachgebrauch über die EU fast verschwunden. Denn es funktioniert nicht, wenn auch in der EU nur Politik von oben gemacht wird und sich das Miteinander der Nationen nur in künstlich zusammengestrickten Projekten auslebt.

Was dann eben auch den Brexit mit jeder Menge Emotion aufgeladen hat, auch mit jeder Menge Illusionen, denn jede halbwegs belastbare Umfrage bestätigt ja, dass der EU-Durchschnitsbürger über wirtschaftliche Zusammenhänge und die tatsächlichen finanziellen Verflechtungen der EU nichts weiß. Eigentlich auch nichts damit zu tun haben möchte. Was nur zu berechtigt ist. Wenn man erst Ökonomie studieren muss, um zu verstehen, wie die EU funktioniert, läuft etwas falsch.

Und was lehrt uns das über die englische Küche? Dass die Bewohner der Insel wohl auch nach dem Schließen der Grenzen zur EU ganz glücklich sein werden mit ihrem Speiseplan. Denn vieles darauf ist gesund, schmeckt vorzüglich und wird auch noch im eigenen Land produziert. Auch so etwas, was die Wirtschaftskapitäne der EU nie begreifen werden. Und so erläutert Carola Ruff auch ein paar typische Spezialitäten wie die Liebe der Engländer zur Minze, zu Marmite, Clotted Cream, Marmalade und Jam.

Und dann geht es los in die seltsam anmutende, aber überraschend gute Küche mit Sandwiches, von denen die Deutschen nicht mal träumen – Chip-Butty etwa, oder Baked Bean Butty oder einem herzhaften Gericht namens Bubbles and Squeak. Der Yorkshire-Puddiung ist eindeutig kein Pudding im deutschen Sinn, dafür deftig. Genauso wie Baked Beans oder Fried Eggs und Crumpets, die englischen Frühstücksbrötchen.

Von Irish Stew haben zumindest die Liebhaber der Insel schon einmal gehört, während die Pea and Mint Soup schon so fremd klingt wie die Scotch Eggs. Vertrauter dürften dann schon eher Welch Rabbits, typische Käse-Toasts, oder die von der Liebe der Engländer zur Gurke zeugenden Cucumber Sandwiches sein. Mit Shepherd’s Pie (Hackleisch mit Kartoffelbrei) wird man tatsächlich satt und Bangers and Mash dürfte auch deutschen Kartoffelbreifreunden sehr vertraut vorkommen. Und natürlich reizt das alles zum Nachkochen und Nachbacken. Zu den meisten versammelten Gerichten braucht man nicht einmal einen englischen Lieferanten. Die Zutaten gibt es auch in hiesigen Läden.

Und manches reizt geradezu zum Ausprobieren. Warum nicht diese ganze Corona-Wartezeit mal dazu nutzen, Fish’n Chips selbst zu machen? Die extra dicken Pommes kann man genauso selbst herstellen wie die frittierten Kabeljau-Happen. Und wenn man kein Guinness vorrätig hat, bekommt man im Laden bestimmt auch ein anderes Altbier.

Und wenn man sich durch die herzhaften Hauptmahlzeiten gearbeitet hat, merkt man, dass auch die Briten beim Nachtisch echte Leckermäuler sind und dabei eben nicht nur mürbe Kekse zu ihrem Tee knabbern, sondern solche Spaßmacher verzehren, die sich Spotted Dick oder Banofee Pie nennen. Zum Schluss gibt es noch allerlei erfrischende Getränke, darunter auch einen ziemlich gesunden Cucumber Pimm’s Cup.

Einige Fotos englischer Kneipenaushänge beweisen, dass es es etliche dieser typischen Gerichte tatsächlich da gibt, wo richtige Engländer ihren Werktag ausklingen lassen. Wenn sie wieder werktagen dürfen. Denn auch sie sind ja jetzt zum Mehr-oder-weniger-Zuhause-Bleiben gezwungen. Vielleicht entdecken sie ja dabei ein paar hübsche Rezepte aus deutschen Landen und ärgern sich ein bisschen, dass sie mit den Krauts nicht viel früher über das wirklich Gemeinsame gesprochen haben, das alle, wirklich alle Europäer eint: den Stolz auf die eigenen Besonderheiten.

Das fehlt einem an dieser von kalter Ökonomie besessenen EU tatsächlich.

Carola Ruff Very British, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2020, 5 Euro.

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