Wie verarbeitet man eigentlich seinen Kummer als Architekt und Kenner historischer Baukunst, wenn gerade in dem Moment, in dem Sachsen sich als Land der Industriekultur feiert, reihenweise die Zeugen der frühesten Industriearchitektur abgerissen werden? Für Bernd Sikora war es doppelt schmerzhaft, weil es 2016 auch ein Bauwerk in seiner erzgebirgischen Kindheitslandschaft betraf: die Meinertsche Spinnmühle in Oelsnitz.

Er erzählt nicht die Geschichte der Meinertschen Fabrik, auch wenn er die Meinerts ebenfalls auftreten lässt in der Geschiche seines (fiktiven) Steinmetzlehrlings und Künstlers Carl Steiner, den er in Drebach aufwachsen und miterleben lässt, wie sein Vater an der neuen Baumwollspinnerei des aus England stammenden Unternehmers und Maschinenbauers Evan Evans mitbaut, ebenfalls – wie die Meinertsche Fabrik – errichtet von Baumeister Johann Traugott Lohse.

Diese Namen sind keineswegs erfunden. Die Evanssche Fabrik war 200 Jahr lang quasi das prägende Gebäude in Siebenhöfen am Geyerbach. Der Bach war deshalb wichtig, weil im Jahr 1813, als sie entstand, an Dampfmaschinen in Sachsen noch nicht zu denken war. Deswegen entstanden die ersten Fabriken nach englischem Vorbild nicht in Städten wie Leipzig, sondern an den Gebirgsflüssen im Erzgebirge, wo man schon eine lange Tradition mit Mühlen und Pochhämmern hatte.

In gewisser Weise ist Sikoras Buch ein Buch ganz in der Tradition der Jugendliteratur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich auch gestandene Autoren an den historischen Roman für Jugendliche wagten und dabei die Geschichten der großen Erfinder, Entdecker und Wissenschaftler erzählten – meist möglichst nah an den historisch verbürgten Ereignissen erlebt, zuweilen direkt aus der Perspektive jugendlicher Helden geschrieben, für die die Begegnung mit den Berühmten das Erlebnis ihres Lebens wurde.

Und in gewisser Weise begegnet auch Carl Steiner lauter Berühmtheiten, die man so auf den ersten Blick nicht so dicht beieinander vermutet hätte. Aber gerade dadurch verändert sich der Blickwinkel, hören Unternehmer wie Evans, Meinert und Lohse auf, irgendwelche langweiligen Gestalten aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung zu sein, sondern fügen sich mit ihren Bauwerken, ihren Wohnhäusern, Festen und Familien ein in die erzgebirgische Welt, deren größte Katastrophe im Jahr 1813 gar nicht die Napoleonischen Kriege waren, sondern das Ende des traditionellen Bergbaus: Die abbaubaren Erze waren erschöpft.

Die einstigen Bergleute mussten sich andere Einkünfte besorgen – viele wurden zu Schnitzern und stellten erzgebirgische Volkskunst her, noch mehr versuchten sich in Heimarbeit als Weber und erlebten mit den ersten fabrikmäßig hergestellten Produkten aus England gleich die nächste Katastrophe. Denn mit den Billigpreisen der industriellen Produktion konnten sie nicht mithalten.

Und hier beleuchtet Sikora einen Aspekt der Napoleonzeit, der auch in der sächsischen Industriegeschichte selten beleuchtet wird: Dass Napoleon mit seiner Kontinentalsperre und dem damit verhinderten Import englischer Waren Unternehmen wie Meinert und Evans erst das knappe Zeitfenster verschaffte, in dem sie ihre ersten Fabriken errichten konnten. Die sächsische Industriegeschichte begann genau hier, genau in dieser kurzen Zeit der Kontinentalsperre.

Und symptomatisch für diesen Übergang vom alten Manufakturwesen zur modernen Fabrikarbeit war die sogenannte „Palastarchitektur“. Baumeister wie Lohse bauten die neuen Fabriken nach dem Vorbild von Kirchen und Schlössern. Weshalb man schon beim Titelbild staunen darf: Es ist die Evanssche Spinnmühle in Siebenhöfen, gezeichnet 1880 von Paul Richard Evans. Da gehörte die Fabrik schon nicht mehr der Familie Evans. Aber sie mutete immer noch an wie ein Schloss.

Und da Sikora Architekt ist, trägt er in seinem Buch natürlich auch den alten Streit über die richtige Fabrikarchitektur noch einmal aus: Müssen Fabriken einem Schönheitsideal genügen? Oder können es einfach triste, praktische Kästen sein, wie sie Baumeister Uhlig bald dutzendweise im Erzgebirge hinsetzen würde, als die Industrialisierung immer mehr Schwung aufnahm?

Und da er seinen Helden Carl mit künstlerischer Begabung ausstattet, sieht er die Entwicklung auch mit den Augen des jungen Künstlers, der erst von seinem Vater, später von einer Berühmtheit wie Veit Hanns Friedrich Schnorr von Carolsfeld hingelenkt wird zu einem besseren Verständnis der Kunst. Veit Hanns Friedrich Schnorr von Carolsfeld war zu der Zeit Direktor der Leipziger Kunstakademie, stammt aber ebenfalls aus dem Erzgebirge.

Wieder so eine Verbindung, die Sikora freudig nutzt, um seinen Helden auch noch ins Leipzig der nach-napoleonischen Zeit reisen zu lassen, dort auch noch dem berühmten Kaufmann Speck zu begegnen und – nachdem ihm selbst Leipzig zu eng geworden ist – nach Rom reisen zu lassen, wo er Veits Sohn Julius Schnorr von Carolsfeld begegnet.

Carl ist freilich so eine Art Glückskind. So viel Würdigung und Förderung haben kunstbegabte Handwerkersöhne damals wahrscheinlich eher nicht bekommen. Und so ganz konfliktfrei ging auch die frühe Industrialisierung in Sachsen nicht vonstatten. Das bringt Sikora zumindest in einigen Blitzlichtern zur Sprache, denn auch im Erzgebirge gab es bald die ersten Maschinenstürmereien.

In Leipzig führte das 1830 gar zur Revolte, als hier die ersten Dampfmaschinen aufgestellt wurden. Was freilich nichts daran ändert, dass gerade diese frühe Industrialisierung Sachsen schon früh zur Werkstatt Deutschlands machte und natürlich zum ersten Land innerhalb Flickendeutschlands, in dem eine Ferneisenbahn gebaut wurde.

Meinertsche Spinnmühle abgerissen

Was sich übrigens auch in der Kunst spiegelte – in all ihren Widersprüchen. Während Carl gerade in französischen Malern wie Gericault die Zukunft einer expressiven und realistischen Malerei sah, sieht er in Veit Schnorr von Carolsfeld den in seinem klassischen Kunstverständnis erstarrten Maler, in dem auch das künstlerische Feuer erloschen ist.

Und in Rom begegnet er auch noch dem typischsten Vertreter jener Biedermeierkunst, die aufs Engste mit Weltflucht und der Idyllisierung von Heimat und Vergangenheit in Verbindung zu bringen ist: dem Dresdner Ludwig Richter. Natürlich begegnet er auch den sogenannten Nazarenern, die in Rom der deutschen Enge entflohen sind und in der Rückbesinnung auf einen innigen Katholizismus meinten, die Erneuerung echter Kunst finden zu können.

Das wäre durchaus ein spannender Punkt gewesen, an dem die Geschichte eine feurige Kurve hätte nehmen können. Doch da hat auch Bernd Sikora ein Problem: Wo ist eigentlich der deutsche Maler in dieser Zeit, der tatsächlich für rebellische, expressive, die romantische Bravheit verlassende Malerei steht? Also quasi das mögliche Vorbild für seinen Carl, der weder mit historischen Kostümbildern noch biedermeierlicher Niedlichkeit etwas anfangen kann und in Rom den Weg zu einer wirklich eigenen Malweise findet?

Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts pflegt zwar den Geniekult auf zuweilen überbordende Weise. Aber einen solchen deutschen Maler gab es leider nicht. Nach einem dramatischen Vorfall mit seiner Geliebten katapultiert es Carl regelrecht aus der Geschichte, auch wenn wir ganz zuletzt erfahren, dass er nicht ganz verloren gegangen ist. Das Resümee der Jahre nach 1822 bleibt mehr oder weniger seinem Bruder Friedrich überlassen.

Dafür wetterleuchten schon die Ereignisse von 1848/1849. Sie hatten sich ja schon 1830 angedeutet. Die Metternichsche Klappe-halten-Politik geriet immer mehr in Widerspruch zu einer Gesellschaft, die nicht nur Fabriken und Eisenbahnen baute, sondern auch Mitsprache und Mitbestimmung forderte.

Die politischen Entwicklungen sind freilich mittlerweile besser erforscht als die frühe Epoche der Industrialisierung in Sachsen. Sikoras Buch ist ein Versuch, in dieser klaffenden Lücke einen Pflock einzuschlagen und anhand eines teilweise realen Figurenensembles die Entstehung eines dieser prägenden palastartigen Fabrikgebäude zu erzählen, direkt aus der Perspektive der am Bau Beteiligten. Mit künstlerischem Blick durch die Augen eines Heranwachsenden, dem die Mädchenherzen regelrecht zufliegen.

Entstanden ist so etwas wie ein Jugendroman, wie ihn sich Architekten wünschen könnten. Und darin versteckt eine kleine Streitschrift für die Schönheit des Industriebaus, die für viele sächsische Landesteile so prägend wurde. Nicht ohne Grund wurde ja 2020 zum Jahr der Industriekultur erklärt. Aber ein Beispiel wie die Meinertsche Spinnmühle macht eben auch deutlich, wie schwer es ist, die alte Zeugen des Beginns zu erhalten, wenn den Kommunen das Geld dazu fehlt oder auch einfach – wie in Oelsnitz – der Zugriff auf den Besitztitel.

Dass so vieles an Industriearchitektur, das sogar die DDR-Zeit überdauert hat, nach 1990 trotzdem verloren ging, hat auch damit zu tun, dass die Baudenkmale in falsche Hände kamen und damit oft genug Jahrzehnte des Verfalls erlebten, den am Ende nur noch ein Federstrich aus dem Landratsamt beenden kann.

Ein Buch also, das auch ein wenig an das Land appelliert, erhaltend tätig zu werden, wo immer das geht. Denn wenn die Gebäude dieses durchaus beeindruckenden Beginns erst einmal verschwunden sind, bleiben nur noch die Fotos und Zeichnungen in den Archiven. Das hat, anders als im Filmclip hingeraunt, nichts mehr mit Denkmalschutz zu tun. Denn dort finden nur noch die Forscher dieses Material, wenn sie sich bewusst auf die Suche begeben. Ein wenig tendiert „Siebenhöfen“ in die Richtung. Denn Sikora kennt die Baugeschichte der Evansschen Fabrik genau.

Bernd Sikora Siebenhöfen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020, 20 Euro.

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