Beinahe wäre Sachsen so gar nicht vertreten gewesen im 100jährigen Jubiläum des Bauhauses 2019. Da standen eher Weimar und Dessau im Mittelpunkt. Sachsen schien einfach nicht sichtbar als eine Region, in der markante Gebäude im Bauhausstil zu finden wären. Aber dann eröffnete in Crimmitschau doch noch eine Ausstellung, die sichtbar machte, dass in Sachsen sogar einer der markantesten Bauhaus-Architekten wirkte.

Die doppelte Enteignung im Osten

Es ist kein Zufall, dass der Deutsche Werkbund Sachsen e.V. dieses Buch herausgebracht hat, denn dass es zu der Ausstellung kam und ein fast vergessener Aspekt der sächsischen Architekturgeschichte wieder ans Licht geholt wurde, ist das Verdienst der Mitstreiter im Werkbund, die schon in den 1990er Jahren ahnten, dass es mal wieder eine gewaltige Leerstelle in der Forschung gab.

Nicht ganz zufällig, denn die Geschichte des Warenhauskonzerns Schocken ist ja auch Teil der deutsch-deutschen Geschichtsvergessenheit, so wie es jahrzehntelang fast allen Opfern der „Arisierung“ unter den Nationalsozialisten ging. Im Osten quasi doppelt vergessen, weil nicht nur die „Arisierung“ nicht wieder rückgängig gemacht wurde, sondern die legendären Schocken-Warenhäuser in Sachsen quasi noch einmal enteignet und zu „Volkseigentum“ gemacht wurden.

Architektur als Lockmittel

Sie wurden HO und Konsum übereignet, wurden noch bis in die 1990er Jahre als Kaufhäuser genutzt. Nur die ältesten Einwohner der Orte, wo diese Kaufhäuser standen, erinnerten sich noch an ihre Glanzzeit, als sich Simon und Salman Schocken insbesondere im mitteldeutschen Raum einen Namen machten mit ihren modernen und kundenfreundlichen Warenhäusern, die sie insbesondere in Mittelstädten wie Zwickau, Crimmitschau, Oelsnitz, Plauen oder Aue gründeten.

Aber nicht nur mit dem modernen Kaufhaus-Ambiente machten sie ihre Kaufhäuser zu Kunden-Magneten. Von Anfang an nutzten sie auch die Entwicklungen der modernen Architektur, um ihren Ladengeschäften eine völlig neue Anmutung zu geben.

Ein besonderes Kapitel der Warenhausgeschichte

Anfangs bauten sie die vorhandenen Gebäude immer wieder um, schufen hellere und größere Ladenflächen. Aber sie waren auch die Ersten, die sich neue große Kaufhäuser im noch heftig in der Diskussion stehenden Bauhausstil bauen ließen. Die neuen Einkaufspaläste wurden geradezu zum Markenzeichen der Schockens.

Und hätten die Stuttgarter das 1928 von Erich Mendelssohn entworfene Schocken-Kaufhaus in den 1960er Jahre nicht abreißen lassen, um Platz für eine breitere Straße zu schaffen, hätte die Warenhausgeschichte der Schockens 2019 auch deutschlandweit wohl viel mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Der fast vergessene Architekt

So war es dann doch wieder „nur“ eine sächsische Geschichte, in deren Mittelpunkt das ebenfalls von Mendelssohn entworfene einstige Schocken-Warenhaus in Chemnitz stand, in dem heute das Staatliche Museum für Archäologie Sachsen (SMAC) untergebracht ist. Doch nicht nur von Mendelssohn ließen sich die Schockens neue Warentempel entwerfen.

Das wird schon in Chemnitz deutlich, denn nur die schwungvolle Außengestaltung stammt von Mendelssohn. Die Innengestaltung verantwortete ein anderer Architekt: Bernhard Sturtzkopf. Ein Name, den auch Architekturforscher noch vor einigen Jahren eher achselzuckend überblättert haben. Er gehört nicht zu den Namen, die man in Verbindung mit dem Bauhaus immer wieder nennt.

Durchs Raster gefallen

Doch dabei ließen es die Forscher des Werkbundes nicht bewenden. Dieser reich bebilderte Band schildert nicht nur die Lebens- und Wirkungsgeschichte der Schockens und des von ihnen beauftragten Erich Mendelssohn. Er schildert auch die Suche nach Bernhard Sturtzkopf, der eben nicht der kleine Handlanger war, als der er in Randnotizen bislang galt.

Tatsächlich war er schon frühzeitig einer der engsten Mitarbeiter von Walter Gropius – sowohl in der Weimarer Bauhaus-Zeit als auch nach dem Umzug nach Dessau. Nur hat er nicht bei ihm studiert, denn Architektur konnte man am Bauhaus in Weimar anfangs nicht studieren.

Ludwig Geßner hat in diesem Band Leben und Werk von Sturtzkopf so akribisch aufgearbeitet, wie das mit der dünnen Quellenlage überhaupt noch möglich ist.

Denn Sturtzkopf fiel ja gleich doppelt durchs Raster, nicht nur weil er nach dem 2. Weltkrieg im Osten blieb und als Architekt und zeitweilig Verantwortlicher für Hochbau in Zwickau tätig war, bevor er nach zunehmenden Konflikten mit der Staatsmacht in den Westen ging. So blieb er weder im Osten in Erinnerung, noch wurde er so Teil der westdeutschen Architekturgeschichte.

Gezielte Abwerbung

Und so wurde auch vergessen, dass er nicht nur verantwortlich war für das erste Zwickauer Hochhaus und etliche Industriebauten im Osten (die heute fast sämtlich als Verlust gelten), sondern ab 1928 auch praktisch Chefarchitekt für den Warenhauskonzern Schocken war.

Und zwar nicht zufällig, sondern wohl direkt abgeworben von den Schockens, die mit ihm einen erfahrenen Bauhausarchitekten ins eigene Haus holten, der als künstlerischer Leiter für die Entwürfe der Warenhäuser in Crimmitschau, Oelsnitz und Zwickau verantwortlich war.

Blinder Flecken: Industriearchitektur

„Der Weltberühmte und der Namenlose“ bringt es ein Untertitel auf den Punkt, was hier passiert ist: Walter Gropius ist bis heute weltberühmt und jeder verbindet seinen Namen mit dem Bauhaus, während sein langjähriger Assistent Bernhard Sturtzkopf jahrzehntelang völlig vergessen war und als maßgeblicher Bauhausarchitekt so gut wie unbekannt. Obwohl allein schon seine Warenhausentwürfe davon erzählen, dass er zu den wichtigsten und klarsten Vertretern der Bauhaus-Architektur gehört.

Auch seine Karriere bekam einen Knick, als die Nazis 1933 an die Macht kamen. Als freier Architekt in Zwickau tätig, entwarf er jetzt vor allem Industriearchitektur – z.B. für die Zwickauer Horch-Werke. Dort redeten die Nazis nicht hinein, verlangten keinen Heimatstil und keine Walmdächer wie in der Wohnhausarchitektur.

Im Industriebau kam es vor allem auf optimale Raumausnutzung und Effizienz an – also die eigentlichen Stärken der Bauhaus-Architektur. Und auch das gehört zur deutschen Architekturgeschichte: Die jahrzehntelang gepflegte Nicht-Beachtung der Industriearchitektur.

Die freilich in diesem Band auch nicht vorkommt, denn hier geht es vor allem um die enge Verbindung der Schockens zur Bauhaus-Architektur. Und damit natürlich um die Tatsache, dass Sachsen mit den einstigen Schocken-Kaufhäusern echte Kleinode der Bauhaus-Epoche besitzt.

Und zwar echte Originale, die sogar heute noch Attraktionen sind, was auch den Bürgermeistern der Städte, wo sie stehen, längst bewusst und ein Anliegen ist.

Bürgerengagement rettet Bauhaus-Kleinode

Schon die Umwidmung des Schocken-Kaufhauses in Chemnitz zum modernen SMAC war eine echte Rettungs- und Erfolgsgeschichte. In den wesentlich kleineren Städten Oelsnitz und Crimmitschau war es natürlich viel schwerer, diese Bauten aus einer Zeit zu retten, als es noch nicht die wilden Einkaufszentren „auf der grünen Wiese“ gab, die ja schon in den 1990er Jahren die alten Einkaufsstrukturen in den ostdeutschen Städten niederkonkurriert haben.

Da braucht es dann jede Menge Bürgerengagement, Ausdauer und neue Ideen, wie man die Gebäude umnutzen kann. Davon erzählen dann einzelne Kapitel in diesem Buch genauso, wie die Recherche-Geschichte erzählt wird, mit der das Werk Bernhard Sturtzkopfs überhaupt erst einmal wieder greifbar wurde.

Kaufhäuser und das Lebensgefühl der 20er Jahre

Aber natürlich gibt es auch ausführliche Würdigungen für die Brüder Schocken und ihr innovatives Kaufhauskonzept, das in den 1920er Jahren auch für das moderne Lebensgefühl in einem Deutschland stand, in dem gleichzeitig die Kräfte von vorgestern systematisch an der Demontage der Republik arbeiteten.

Dabei war der Name Schocken vielen Einwohnern der kleinen und größeren Städte in Sachsen auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch geläufig. Ihnen war sehr wohl bewusst, dass diese modernen Kaufhäuser auch eine völlig neue Lebens- und Einkaufsqualität in die Städte gebracht haben. Von der architektonischen Wirkung und der damals schon sehr modernen Lichtinszenierung ganz zu schweigen.

Die späte Wiedergutmachung und unentdeckte Schätze

Dass Bernhard Sturtzkopf so schnell vergessen wurde, hat auch damit zu tun, dass auch in der DDR die Architektur politisch aufgeladen wurde und das Bauhaus über Jahrzehnte regelrecht als bürgerlich dekadent verfemt wurde. Das Buch schließt also nicht nur eine Lücke, es schafft auch ein kleines Stück Wiedergutmachung den Schockens und ihrem Architekten gegenüber.

Und es zeigt auf diese Weise auch, dass vieles im Osten und besonders in Sachsen, was lange Zeit als unwichtig und nicht sehenswert ignoriert und tatsächlich übersehen wurde, in Wirklichkeit ein Schatz ist – und ein ganz wesentlicher Teil regionaler Identität. Auch wenn der selbst im Bauhaus-Stil entworfene Namenszug Schocken verschwunden ist. Nur vergessen ist er nicht.

Bis zum September war die Ausstellung zu Bauhaus / Schocken auch in Leipzig zu sehen. Wer sie verpasst hat, muss nicht traurig sein. Alles ist in diesem Buch noch einmal abgebildet und beschrieben. Und Sachsen hat damit aufgehört, ein weißer Flecken auf der Karte der mitteldeutschen Bauhaus-Geschichte zu sein. Im Gegenteil: Wer sich für dieses besondere Kapitel der Baugeschichte interessiert, weiß jetzt, wo er hinfahren kann.

Deutscher Werkbund Sachsen e.V. (Hg.): Der Bauhausstil, Passage Verlag, Leipzig 2021, 19,50 Euro.

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